Free Speach My ass (Gilded Age 2)

Erst vor einigen Tagen hatte ich die Idee, eine Serie zu machen aus den Parallelen zwischen den heutigen USA unter Trump 2 und dem „vergoldeten“ Zeitalter zwischen 1870 und 1920, in dem die revolutionären Feministinnen aus meinem neuen Buch aktiv waren.

Die These ist, dass der autoritär-autokratische Umbau des Landes nicht einfach aus heiterem Himmel kommt, sondern seine Wurzeln in der amerikanischen Geschichte selbst hat. Und ja, was soll ich sagen, schon habe ich Teil 2.

In Teil 1 ging es um die Idee, arme und „überflüssige“ Menschen einfach umzubringen. In Teil 2 geht es um den Mythos von „Free Speech“.

Die freie Rede gilt als das Alleinstellungsmerkmal der USA schlechthin, und gerade die Rechten haben mit dem Narrativ einer angeblichen linken „Cancel Culture“ in den vergangenen Jahren Stimmung gemacht. Elon Musk hat Twitter gekauft, weil dort angeblich keine Meinungsfreiheit herrsche und dann die Reichweite von Accounts, deren Meinung ihm nicht gefällt, stark eingeschränkt, während er die Reichweite von Accounts, die ihm gefallen (vor allem rechte und rechtsextreme) aktiv erhöht hat.

Und jetzt hat der Chef der US-Medienbehörde, Brendan Carr, die Entlassung des beliebten Late-Night Hosts Jimmy Kimmel bewirkt. Dessen (komplett harmlose, ich habe sie gesehen) Show von gestern kommentierte Carr mit den Worten: „We can do this the easy way or the hard way. These companies can find ways to change conduct and take actions on Kimmel, or there’s going to be additional work for the FCC ahead.” Er legt einen Entzug der Sendelizenz nahe. Der Sender ABC hat daraufhin Kimmels Show mit sofortiger Wirkung und auf unbestimmte Zeit abgesetzt.

Kimmel ist nicht der erste, auch die Late Show von Stephen Colbert wurde bereits auf Druck der US-Regierung gecancelt, allerdings erst ab nächsten Mai (mal sehen). Konnte man die Einstellung von Colberts Show noch als Einknicken des Senders vor dem rechtsautoritären „Vibe Shift“ erklären, so ist die Einstellung von Kimmel ganz klar als Zensur, also staatliches Eingreifen zu werten.

Was ist neu daran?

Der Erste Verfassungszusatz der USA ist tatsächlich wegweisend für das Verständnis von Meinungsfreiheit gewesen. Er lautet: “Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.” Verabschiedet wurde er im Jahr 1791, also zu einer Zeit, als in Europa autokratische Staaten noch normal waren und Pressezensur dementsprechend auch.

Der Erste Verfassungszusatz war also in der Tat revolutionär und etwas Neues. Und in vielerlei Hinsicht haben die USA Maßstäbe zur Meinungsfreiheit gesetzt, insbesondere was religiöse Meinungsfreiheit betrifft, aber eben auch die Möglichkeit, absurde und nachweislich falsche Meinungen zu vertreten, selbst in hohen Ämtern.

Anthony Comstock:

Wir mögen das, was jetzt passiert, shocking finden, dennoch ist auch ein Fakt, dass die Meinungsfreiheit für revolutionäre Positionen in den USA nie so wirklich gegolten hat. Mein Buch beginne ich mit Anthony Comstock, auf dessen Namen 1873 Gesetze gegen die Verbreitung von Obszönitäten erlassen wurden, und zwar in Auseinandersetzung mit Victoria Woodhull, die in ihrer Zeitung für freie Liebe eingetreten ist. Es war der Auftakt für ein langes Leben, in dessen verlauf Comstock 4000 Verhaftungen erwirkt hat, 15 Tonnen Bücher und vier Millionen Bilder aufgrund seiner Ermittlungen vernichtet wurden, und 15 Journalisten, Feministinnen und Bürgerrechtler wegen seiner Anklagen Suizid begingen. Die Comstock Acts sind immer noch in Kraft und werden von der Trump-Adminitration reaktiviert.

Anarchistische Aktivist*innen wie Lucy Parsons oder Emma Goldman konnten über das Konzept Meinungsfreiheit sowieso nur lachen – ihre Vorträge wurden regelmäßig von der Polizei verboten, gestürmt und so weiter. Bei der Beerdigung des Anarchisten Johann Most 1906 in New York City sagte Lucy Parsons: „In Amerika, dem Land der Freien und der Heimat der Sklaven, lügt die Flagge dreist, die den Einwanderern, die vor Tyrannei und Unterdrückung fliehen, einen Zufluchtsort verheißt. Denn hier werden Menschen eingesperrt, weil sie die Wahrheit sagen. Wären die Gründer dieser Republik aus solch verachtenswertem Material gemacht gewesen, wie es die Amerikaner heute sind, hätte es keine Republik gegeben. Ich verachte die Zivilisation, die 1.700.000 Kinder zur Arbeit in die Fabriken schickt. Aber der Geist der Freiheit ist weit verbreitet. Noch nie gab es so viel Unruhe in der Welt, und aus dieser Unruhe wird das robuste Kind der Freiheit geboren.“

Na ja, mal sehen.

Derzeit wird die Ermordung des rechtrextremen Aktivisten Charlie Kirk als Vorwand genommen, alle irgendwie „Linken“ wegen ihrer politischen Haltung zu verfolgen. Das Narrativ ist, dass selbst die Demokratische Partei „linksradikal“ sei. Und so gesehen ist die Situation heute noch ein paar Grad schlimmer als damals vor 120 Jahren.

Denn während Victoria Woodhull, Lucy Parsons und Emma Goldman wirklich revolutionär und radikal waren, lautet die rechtsautoritäre Parole heute, dass alles, was Trump nicht gefällt bzw. ihm nicht aktiv schmeichelt als linksradikal gilt. Über die Vorstellung, dass jemand wie Jimmy Kimmel oder gar dass gemäßigte Demokraten wie die Clintons als „linksradikal“ eingestuft werden, hätten sie lauthals gelacht, und es ist auch wirklich absurd (trotzdem kommen sie ja damit durch).

Gibt es noch Hoffnung? Vielleicht. Denn auch wenn die Meinungsfreiheit nie so wirklich gegolten hat in den USA, jedenfalls nicht für „Linke“, so ist sie doch ein wesentlicher Bestandteil des kollektiven Selbstbildes der Amerikaner*innen.

Vor 150 Jahren, als Victoria Woodhull wegen der Agitation von Comstock im Gefängnis war, war der Eingriff in ihre Redefreiheit ein entscheidender Faktor, der die öffentliche Meinung zum Stimmungsumschwung brachte – auch viele von denen, die sie wegen ihrer radikalen Ansichten zur freien Liebe abgelehnt hatten, stellten sich hinter sie, als sie wegen ihrer Publikationen verfolgt wurde: Wir stimmen dir nicht zu, aber wir treten dafür ein, dass du es sagen darfst, galt damals tatsächlich in weiten Kreisen.

Ob das heute auch noch so ist? Ich bin nicht sicher. Die MAGA-Bewegung folgt längst der Dynamik von Sekten, deren Mitglieder nicht mehr selbstständig denken. Aber ein kleines Fünkchen Hoffnung erhalte ich mir noch.

PPS: nicht dass einige denken, ich würde Comstock zu unrecht als böse darstellen – dies hier ist das Siegel der von ihm gegründeten „New York Society for the Suppression of Vice“, und es macht klar anschaulich, dass Verhaftungen und Bücherverbrennungen das Ziel waren.

17 Antworten

  1. Danke für deine Gedanken! Fidi

    Like

  2. 1*429*424*0

    Like

  3. 1+434-429-5

    Like

  4. 1*843*838*0

    Like

  5. 1+848-843-5

    Like

  6. 1*619*614*0

    Like

  7. 1+624-619-5

    Like

  8. 1*if(now()=sysdate(),sleep(15),0)

    Like

  9. 10’XOR(1*if(now()=sysdate(),sleep(15),0))XOR’Z

    Like

  10. 10″XOR(1*if(now()=sysdate(),sleep(15),0))XOR“Z

    Like

  11. 1-1; waitfor delay ‚0:0:15‘ —

    Like

  12. 1-1); waitfor delay ‚0:0:15‘ —

    Like

  13. 1-1 waitfor delay ‚0:0:15‘ —

    Like

  14. 1′“

    Like

  15. 1%2527%2522\’\“

    Like

Was meinst du?

Aktuelle Beiträge

Foto: Heike Rost

Antje Schrupp

Ich bin Journalistin und Politikwissenschaftlerin und lebe in Frankfurt am Main. Mein Thema ist besonders weibliche politische Ideengeschichte. Im Sommer 2025 erschien mein neues Buch „Unter allen Umständen frei“ über revolutionären Feminismus am Ende des 19. Jahrhunderts – Victoria Woodhull, Lucy Parsons und Emma Goldman.

Newsletter

Einmal im Monat Post von mir im Mailbriefkasten: Hier abonnieren: