Über Nerds wollte ich eigentlich gar nichts schreiben, weil ich mir nicht sicher bin, ob es so etwas überhaupt gibt. Jedenfalls hatte ich noch nie das Bedürfnis, die Menschen, mit denen ich es im Alltag zu tun habe, in Nerds und Nicht-Nerds aufzuteilen. Nur aus Erzählungen kenne ich ein, zwei, die dem Klischee vielleicht halbwegs nahe kommen.
Aber das Thema kommt ja aus den Medien gar nicht mehr raus, und deshalb komme ich wohl mittelfristig nicht drum herum, mir dazu eine Meinung zu bilden. Zumal im Zusammenhang mit Nerds immer auch von Frauen die Rede ist. Und zwar nicht nur indirekt, insofern der Nerd nach allgemeiner Auffassung männlich ist, sondern auch ganz direkt: Immer steht die Frage im Raum, ob Frauen sich in Nerds verlieben oder nicht.
Das interessiert mich, denn die Vorstellung, das Sich-Verlieben einer Frau würde etwas über die objektive, gesellschaftliche Qualität eines Mannes aussagen, ist ein fester Bestandteil unseres Kulturwissens. So heißt es zum Beispiel in „De Amore“, einem im Mittelalter weit verbreiteten Liebes- und Erotik-Lehrbuch: „Sie selber aber (d.h. die Frauen) sind dringend gehalten, jeden entsprechend seinen Verdiensten zu belohnen. Denn was immer die Menschen (d.h. die Männer) an Gutem tun und sagen, sie pflegen alles dem Lob der Frauen zuliebe zu tun, und es in ihrem Dienst zu vollbringen, damit sie sich der Belohnung durch sie rühmen können.“
Spätere Varianten dieses Motivs handeln davon, dass verantwortungsbewusste Frauen einen gut verdienenden Langweiler dem charmanten Hallodri bei der Gattenwahl vorziehen sollen und so weiter. Jedenfalls geht es durch die Jahrhunderte bei der Frage, wen eine Frau „erwählt“, so gut wie nie um das weibliche Begehren selbst, sondern darum, die Männer und ihre Taten letztlich zu evaluieren – und zu belohnen.
Und jetzt also die Nerds. Die im Kommen sind. Die immer wichtiger werden. Vor denen wir eventuell Angst haben müssen, weil sie die einzigen sind, die bei diesem ganzen Computerkram noch durchblicken. Die Frauen sind es, die mit ihrem gewandelten Urteil den letztgültigen Beweis dafür liefern, dass die Nerds aus der Schmuddel-kalte-Pizza-Autisten-Ecke heraus sind: „Und ja, es gibt Frauen, die Nerds ziemlich erotisch finden“ – so endet der Artikel zum Thema in der aktuellen brandeins, und es klingt fast wie eine Drohung.
Bei der Diskussion über die Nerds geht es um einen Konflikt zwischen Männern. Verhandelt wird daran ein sich veränderndes Männerbild. Der visionäre, polternde, machtbewusste, charismatische Macher-Mann, der seit einigen Jahrzehnten das männliche Role-Model war (nicht zufällig denke ich hier an Frank Schirrmacher) wittert Konkurrenz durch eine neue Sorte Mann, der er der Einfachheit halber den Namen „Nerd“ gibt.
Und ich, eine Frau? Was habe ich mit all dem zu tun?
Zunächst ist natürlich einmal das Selbstverständliche festzuhalten, nämlich dass es auch Frauen gibt, die kalte Pizza essen, geselligen Small-Talk meiden, nicht viel auf Mode geben und sich extrem gut mit Computern auskennen. Der Punkt ist nicht, dass es keine weiblichen Nerds gäbe, sondern dass es offenbar nicht notwendig ist, sie so zu nennen. Niemand hat das Bedürfnis, diese Frauen zu einer bestimmten „Sorte“ Mensch zu erklären, sie mit einem eigenen Label zu belegen.
Ich bin der Meinung, das hängt eben genau damit zusammen, dass die Nerd-Diskussion in Wahrheit eine versteckte Männlichkeits-Diskussion ist: Während verunsicherte Nicht-Nerd-Männer die Selbstverständlichkeiten, an die sie immer geglaubt haben, in Gefahr sehen (einfach weil es immer mehr Männer gibt, die es anders machen, eben die „Nerds“), gibt es auf Seiten der „Nicht-Nerd-Frauen“ (wie ich zum Beispiel eine bin) keine Notwendigkeit, sich irgendwie konzeptionell von „Nerd-Frauen“ zu unterscheiden. Es besteht einfach an diesem Punkt keinerlei Unsicherheit im Bezug auf die eigene Weiblichkeit oder die Bedeutung, die wir jeweils dem Frausein beimessen. Wie gut eine Frau mit Computern kann und wie viel sie im Netz unterwegs ist, ist schlicht unerheblich im Bezug auf das Frausein. Die einen machen es eben so und die anderen so (was nicht heißt, dass Frauen bei diesem Thema keine Konflikte untereinander hätten, aber dazu ein andermal).
Was können am Thema interessierte Frauen also nun mit dieser Diskussion um die Nerds tun? Mein Vorschlag wäre, dass wir nicht so sehr darauf hinweisen, dass es auch „weibliche Nerds“ gibt, sondern eher versuchen, die der Debatte eigentlich unterliegende Konstruktion (beziehungsweise Dekonstruktion) von Männlichkeit aufzudecken und als solche zu thematisieren.
Denn da hätten speziell die Feministinnen unter uns ja durchaus vieles beizutragen. Zum Beispiel haben wir Regalweise feministische Analysen darüber verfasst, warum sich der Schirrmacher-Typus eigentlich überholt hat und was genau das Problem an seiner Vorherrschaft ist. Was die Nerds betrifft, so bin ich mir, wie gesagt, nicht sicher, ob es sie überhaupt gibt, aber eventuell ist so ein Begriff, wenn auch sicher pauschalierend, ganz nützlich, um zu benennen, dass sich gegenwärtig alternative Typen von Männlichkeit herausbilden. Dann könnten wir auch untersuchen, inwiefern sie sich von den klassischen unterscheiden oder nicht.
Ich persönlich finde an diesen ominösen „Nerds“ zum Beispiel positiv, dass sie, anders als die Schirrmacher-Machos, kaum noch Geschlechterklischees und patriarchales Überheblichkeitsgetue an den Tag legen. Problematisch finde ich allerdings, dass sie ihre eigene (männliche) Partikularität oft nicht sehen und gerne mal glauben, alle Menschen (nicht nur, aber speziell auch Frauen) wären genauso wie sie selbst.
Eine erste Ahnung für einen möglichen Grund für dieses Desinteresse an der Differenz kam mir gestern beim Lesen des genannten brandeins-Artikels. Neben den üblichen Klischees war es folgende Beschreibung der Nerds, die bei mir hängen blieb und mich interessierte: „Unverdrossene und pedantische Wahrheitssucher, die auf Daten, Fakten und Logik pochen, die Letzten, die noch zwischen null und eins, zwischen Kompetenz und Inkompetenz unterscheiden können.“
Genau dieser Punkt war es, der mich vor einem halben Jahr an vielen „nerdigen“ Kommentaren zu meinem Blogpost über die Piraten vor allem gestört hat. Nicht, dass sie anderer Meinung waren als ich (nämlich der Meinung, der Frauenanteil in einer Partei sei irrelevant, während ich der Meinung war, er sei relevant), sondern dass sie ihre Meinung so verkündeten, als ginge es dabei um eine objektive Wahrheit, eine universale Logik, und ich sei nur zu blöde, um sie zu verstehen.
Diese Vorstellung, es gebe hinter allem eine „Wahrheit“ und es gehe nur darum, sie möglichst zweifelsfrei herauszufinden, stimmt aber nur für abgeschlossene Systeme und nicht für Politik. Es ist zum Beispiel schlicht nicht möglich, zu „beweisen“, ob der Frauenanteil in einer Partei relevant ist oder nicht. Sondern genau das ist der Gegenstand politischer Urteile, darüber gibt es Differenzen, und nirgendwo ist ein Schiedsrichter, der sagt, wer recht hat: Sobald ich, eine einzige Frau, beschließe, dass der Frauenanteil in einer Partei relevant ist, dann ist er nämlich relevant (zunächst einmal für mich, aber bald auch für die Welt, denn ich werde dann entsprechend handeln).
Der Bereich des Politischen führt immer aus dem jeweiligen System hinaus, das ist sein Wesen. Politik zeichnet sich (nach Hannah Arendt) durch die Möglichkeit des Neuanfangs aus, durch die Fähigkeit jedes einzelnen Menschen, etwas Anderes, Neues, noch nie da Gewesenes zu tun. Die alten, bisher existierenden Logiken und Maßstäbe haben im Bezug auf dieses Neue keine Gültigkeit. Man befindet sich in der Politik in einem undefinierbaren und schwammigen und unsicheren Bereich, wo einem nichts anderes übrig bleibt, als real existierende Unterschiede auszuhandeln und sich mit Menschen abzugeben, die (aus eigener Perspektive) Blödsinn reden, nichts kapiert haben, kein bisschen durchblicken und so weiter.
Daher meine Frage an die „Nerds“ (und jetzt meine ich explizit auch die Frauen, die sich dazu zählen): Könnt Ihr mit diesem Unterschied zwischen offener, unbeweisbarer, überraschender, nicht vorhersagbarer Politik (Differenz) und verstehbarem, allgemein gültigem und logisch beweisbaren Systemen (Universalismus) etwas anfangen? Habt ihr darüber schon diskutiert? Ergebnisse? Texte? Links? Danke!

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