Einige meiner besten Freundinnen sind keine Feministinnen. Wenn ich genauer nachdenke (also diejenigen rausrechne, die über die politische Arbeit zu Freundinnen geworden sind), ist sogar fast keine meiner „normalen“ Freundinnen eine Feministin. Von den Freunden ganz zu schweigen. Es gibt die eine oder andere, aber man muss sie einzeln suchen wie die Rosinen in einem Apfelkuchen.
Klar, meine Freundinnen sind alle emanzipiert und verdienen ihr eigenes Geld, oder wenn nicht, dann haben sie zumindest eine revolutionäre Erklärung dafür. Meine Freunde sind vollkommen gleichgestellt und kämen nie auf die Idee, uns Frauen zu unterdrücken. Aber – nee, Feministinnen sind sie nicht. Oder Feministen.
Und wisst Ihr was? Ich finde das völlig in Ordnung. Ich finde es sogar fast normal. Denn Feministin sein ist heute ja nicht mehr damit erledigt, dass man so vollkommen evidente Dinge tut wie dagegen protestieren, dass Menschen ohne Penis kein Konto eröffnen dürfen. Es ist auch nicht mehr damit getan, die zwei, drei maßgeblichen Bücher zu kennen, es gibt längst hunderte. Nicht nur Bücher, auch feministische Fraktionen und Unterströmungen. Will man das alles wirklich so genau wissen?
Außerdem: Es gibt heute in Deutschland schlimmere Probleme als die Benachteiligung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Armut etwa, die Krise der Erwerbsarbeit, die Ausbeutung von Tieren. Der Klassiker Umweltverschmutzung. Islamophobie. Bildungsmisere. Pflegenotstand. Die Liste möglicher Themen, mit denen sich ein politischer Mensch beschäftigen kann, ist lang und breit.
Und eigentlich ist es völlig albern, darüber zu streiten, welches davon wichtiger ist. Wahrscheinlich sind sie alle wichtig. Und schließlich: Je tiefer man in ein Thema einsteigt, umso interessanter wird es. Man kann schlicht nicht überall so richtig gut Bescheid wissen. Die meisten Menschen haben irgendeine Leidenschaft, in die sie viel Zeit und Energie investieren.
Bei mir ist es eben der Feminismus. Die Frage, wie das Verhältnis der Geschlechter unserer Kultur zugrunde liegt, wie im Laufe der Jahrhunderte über Frauen und Männer gesprochen wurde, welche Ideen Frauen zu all dem hatten (was mühsam erforscht werden musste) – das ist einfach das Ding, wo bei mir „Strom“ drauf ist.
Und ja, ich bin überzeugt, dass dieses Geschlechter-Dingens extrem wichtig ist, wichtiger als die meisten Leute sehen. Dass es allem anderen zugrunde liegt und alles andere erklärt, die Umweltverschmutzung, das marode Gesundheitssystem, die Tierquälerei, die Bildungsmisere, die Kriege sowieso. Aber es ist völlig okay, dass andere das anderes sehen. Ich kann das sogar nachvollziehen: Sie kennen sich mit dem Feminismus halt nicht so gut aus wie ich, haha!
Natürlich weiß ich, dass sie das vermutlich andersrum genauso sehen. Schließlich habe ich kaum eine Ahnung von IHREN Themen. Deshalb: Lasst uns Freundinnen bleiben!
Unter einer Bedingung allerdings: Was gar nicht geht, das sind Leute, die noch kein einziges feministisches Buch gelesen haben, die die allergrundlegendsten Basics der Debatte nicht kennen und noch keine fünf ernsthaften Gedanken an das Thema verschwendet haben – und die mir dann erklären wollen, warum ich Unrecht habe. Also diese „Ich fühle mich nicht diskriminiert, das Thema ist doch längst überholt“-Frauen. Oder die „Meine Frau hat mich verlassen und ich muss trotzdem Unterhalt zahlen, ich werde unterdrückt und daran ist der Feminismus schuld“-Männer.
Klar, zum Thema Feminismus fällt uns allen etwas ein, schließlich sind wir alle Frauen und Männer. Oder kennen zumindest welche. Ebenso wie uns was einfällt zum Gesundheitswesen, der Unfähigkeit von Politikern oder was man tun müsste, um den Klimawandel aufzuhalten. Bloß: Es gibt einen Unterschied zwischen der eigenen Betroffenheit und der langjährigen inhaltlichen Auseinandersetzung mit einem Thema.
Die eigene Betroffenheit macht mich sozusagen zur Expertin für die Realität. Das ist ein wichtiges Korrektiv gegen graue Theorie. Das Erzählen von dem, was wir selbst erleben, ist der erste und wichtigste und unverzichtbare Schritt zur Theorie. Aber eben nur der erste Schritt, es ist noch nicht die Theorie selber. Danach kommen viele weitere Schritte der Analyse, der Auseinandersetzung, der Forschung – also all das Zeitraubende, Anstrengende, Mühsame, das nicht alle „Betroffenen“ auf sich nehmen, sondern nur die, die sich besonders für ein Thema interessieren.
Der Witz besteht darin, dass wir aus dieser Ungleichheit der Leidenschaften einen Hebel machen können, um gemeinsam weiterzukommen. Nicht alle müssen Feministinnen sein. Aber alle sollten akzeptieren, dass das Verhältnis der Geschlechter ein wichtiges Ding ist und dass es deshalb prima ist, wenn es Feministinnen gibt, die sich darum kümmern. Eventuell ist ja das eine oder andere Forschungsergebnis auch für sie interessant. Wir müssen auch nicht alle Umweltexperten sein oder Spezialistinnen für alternative Heilmethoden, aber wir können nicht einfach leugnen, es beides dringend geben muss und dass diese Themen letztlich auch mich selbst etwas angehen. Ich kann schließlich nicht als Umweltsau leben und zur Rechtfertigung anführen, ich wäre doch zum Ausgleich Feministin.
Die Anerkennung von Expertise heißt also gerade nicht, dass man sich aus den anderen Themen einfach raushält. Dann würden wir nämlich miteinander nur noch über das Wetter reden können. Alle „Theoretikerinnen“ brauchen die Erfahrungen der „normalen“ Leute. Die Expertin für alternative Heilmethoden ist darauf angewiesen, dass ich ihr meine Zipperlein schildere. Und sie muss es dann schon ernst nehmen, wenn ich ihr sage, dass ihr Tipp mir überhaupt kein bisschen geholfen hat.
Im konkreten Fall sticht Erfahrung nämlich immer die Theorie. Jede Theorie, die in der Realität, in einer konkreten Situation keine Resonanz hat, ist überflüssig. Aber die Erfahrung kann die Theorie nicht ersetzen. Wenn Theorie und Realität auseinanderklaffen, müssen wir diskutieren, sogar streiten. Zum Beispiel ich und die Heilpraktikerin, deren Mittelchen mir nicht geholfen hat. Aber so ein Gespräch hat wenig Sinn, wenn ich glaube, mein angelesenes Halbwissen zusammen mit dieser einen Erfahrung würde ausreichen, um zu wissen, dass sie nicht die allergeringste Ahnung von Heilkunde hat. Wenn ich ihre Autorität ohnehin nicht anerkenne – dann reden wir besser tatsächlich nur übers Wetter.
Ich könnte ihr allerdings erklären, warum ihre Honorarsätze um ein Drittel niedriger liegen als die ihres Praxiskollegen. Für den Fall, dass sie sich darüber schon mal gewundert hat.
Danke für die Spende!


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