Die Diskussionen über Judith Butlers Ablehnung des CSD-Zivilcourage-Preises (hier ein Video von ihrer Rede) berühren einen Punkt, der mich schon länger beschäftigt. Und zwar die Tendenz, dass politische Debatten, gerade unter Linken, häufig auf eine gewisse Konkurrenz darum hinauslaufen, wer die radikalere Theorie und die korrekteste Analyse der Situation liefert. Das führt dann leicht zu moralischen Aufteilungen in die „Guten“ und die „Bösen“.
Spontan fand ich Butlers Aktion sehr sympathisch, denn dass die inhaltlich (überwiegend) Recht hat, liegt meiner Ansicht nach auf der Hand: Es gibt rassistische Äußerungen und fremdenfeindliche Attitüden in der Szene. Und die werden zu selten thematisiert. Ebenso ist natürlich richtig, dass durch die Entwicklung hin zu einer rechtlichen Gleichstellung schwuler und lesbischer Paare eine „Mainstreamisierung“ stattgefunden hat. Immer wenn eine Bewegung sich Richtung „Mitte der Gesellschaft“ bewegt, verliert sie einen Teil ihrer Radikalität und hört auf, gesellschaftliche Verhältnisse an der Wurzel zu kritisieren – in diesem Fall ist das die Orientierung an der bürgerlichen Ehe. Jeder „Einschluss“ einer ehemals marginalisierten Gruppe führt zu neuen Ausschlüssen und so weiter. Das geht ja der Frauenbewegung genauso.
Es ist in diesem Zusammenhang relativ leicht, das zu analysieren und radikal, hieb- und stichfeste Thesen aufzustellen, ich selbst neige da auch gerne mal zu. Das läuft allerdings leicht auf eine moralische Schiene hinaus und führt zu einer Konkurrenz darum, wer radikaler ist und mehr Recht hat als die anderen. Und das bringt uns meiner Ansicht nach nicht weiter.
Die eigentliche Herausforderung besteht darin, angesichts dieser Differenzen gangbare politische Handlungsoptionen in einer konkreten Situation zu entwerfen. Denn die politische Kultur verändert sich nicht dadurch, dass wir immer ausgefeiltere Theorien haben – davon werden sich die „Gegner_innen“ kaum überzeugen lassen. Gerade bei so heiklen und alltagsrelevanten Themen wie sie die Freiheit von Schwulen und Lesben, von Transgender und letztlich sogar von Frauen insgesamt betrifft.
Also: Zu wissen, dass auch die Schwulen und Lesben nicht vor Rassismus gefeit sind, ist das eine. Die spannende Frage ist aber: Was kann ich dagegen tun?
Ein Beispiel, das ich selbst erlebt habe: Ich war bei einer Veranstaltung in einem Frauenzentrum, organisiert von netten Lesben. Es ging um lesbische Politik, wir hatten gute Diskussionen, und anschließend gingen wir noch in die Kneipe. Da kam das Thema dann auf den Islam, und es zeigte sich, dass eine der Organisatorinnen, die ich vorher sehr sympathisch gefunden hatte, extreme anti-muslimische Ressentiments hatte. Das ging soweit, dass sie uns anderen anschrie, entrüstet den Raum verließ, dann wiederkam und erzählte, dass sie sich in Geschäften grundsätzlich nicht von Verkäuferinnen bedienen lässt, die Kopftuch tragen.
Natürlich war sie ein Paradebeispiel für das, was Judith Butler (zu Recht) kritisiert. Aber was hilft mir es in so einer Situation, das zu wissen? Nicht viel. Das, was mir übrig bleibt, ist die Beziehung stark zu machen. In diesem Fall haben wir anderen diese Frau mit der Tatsache konfrontiert, dass wir nicht ihrer Meinung sind. Dass wir sie für falsch und gefährlich halten. Wir haben von ihr verlangt, dass sie sich damit auseinandersetzt, woher ihre Islamophobie kommt – und zwar gerade weil wir mit ihr befreundet sind. Ich halte das für viel versprechender, als die Beziehung zu beenden, also etwa zu sagen: Du bist rassistisch, du darfst bei unseren Veranstaltungen nicht mehr mitmachen.
Genauso ist es übrigens anders herum, bei der Kritik an Homophobie. Meiner Erfahrung nach gibt es tatsächlich einen Unterschied zwischen „westeuropäisch-liberaler“ Homophobie und Homophobie mit anderen kulturellen Hintergründen. Die westeuropäische funktioniert eher in die Richtung: „Schwule und Lesben sind doch gleichgestellt, jetzt lasst uns mit dem Thema in Ruhe und küsst euch nicht in der Öffentlichkeit“. Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen stehen häufig viel offener zu ihrer Homophobie, weil diese Haltung in ihren sozialen Kontexten als „normal“ gilt.
Wenn politische Vermittlungsarbeit hin zu freiheitlichen Strukturen, wie ich behaupte, nur im konkreten Fall möglich ist, dann bedeutet das, dass auch hier je nach Situation unterschiedlich argumentiert werden muss. Ich muss keine abstrakten Positionen haben, sondern den jeweiligen individuellen Menschen sehen, der gerade mit homophoben (oder eben rassistischen) Einstellungen vor mir steht. Überlegen, wo hier, bei ihr oder ihm, ein Ansatzpunkt wäre, um ins Grübeln zu kommen. Jedenfalls bringt es dann nichts, auf eine „richtige“ Theorie zu verweisen oder moralische Keulen ins Spiel zu bringen. Gute Erfahrung habe ich gemacht mit einer Mischung aus echtem Interesse an der Position der anderen und der Entschlossenheit, den Konflikt hier und jetzt auszutragen (und nicht aus Harmoniegründen gleich das Thema zu wechseln).
Also im oben geschilderten Fall: Es hat mich wirklich interessiert, zu erfahren, woher diese heftigte antimuslimische Reaktion dieser ansonsten sehr sympathischen und politisch klugen Lesbe kam. Gleichzeitig war es notwendig, dass wir uns gestritten haben und dieses Thema nicht um einer vordergründigen Solidarität wegen umschifften.
Meine Erfahrung ist aber auch, dass man mit diesen Diskussionen irgendwann an einen Punkt kommen kann, wo man sagen muss: Mehr ist in dieser Situation nicht möglich. Das Entscheidende ist dann nicht, die Beziehung abzubrechen, weil der andere eine politisch nicht haltbare Meinung vertritt, sondern es immer wieder neu zu versuchen, diese Grenzen aufzubrechen. Vielleicht kommen wir morgen weiter.
Update vom 30.7.2010: In der Jungle World gibt es jetzt es ein ausführliches Interview mit Judith Butler, in dem sie ihre Position genau erklärt.


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