Immer mal wieder wird über das Kinderwahlrecht diskutiert – aktuell etwa bei den Piraten. Die Frage, ob es sinnvoll ist, das Wahlrecht erst ab 18 Jahren zu verleihen, beschäftigt mich nicht besonders, weil ich das Wahlrecht nicht für das Zentrum des Politischen halte. Aber zu einem Argument, das in diesem Zusammenhang immer wieder vorgetragen wird, möchte ich mich äußern, nämlich: „Für viele mag die Forderung nach einem Kinderwahlrecht absurd klingen – Ich gebe zu bedenken, dass früher auch Frauen nicht wählen durften und die Vorstellung, dass das mal so war, uns heute absurd erscheint.“ (so im PiratenPad)
Zunächst einmal werden hier zwei Dinge verglichen, die man nicht vergleichen kann: Kinder werden schließlich vom Wahlrecht ausgeschlossen, weil sie nicht über dasselbe Wissen, dieselbe Lebenserfahrung, dieselbe Urteilsfähigkeit verfügen, wie Erwachsene. Auch wenn man dies falsch findet – der Ausschluss der Frauen vom Wahlrecht war genau gegenteilig gelagert: Sie wurden ausgeschlossen, obwohl sie über dasselbe Wissen, dieselbe Lebenserfahrung und dieselbe Urteilsfähigkeit verfügten, wie Männer – genau darin lag ja der Skandal.
Das Argument wird also kaum einen Gegner oder Gegnerin des Kinderwahlrechts überzeugen, im Gegenteil. Nun könnte man natürlich sagen: Ja, aber haben nicht damals die meisten Leute geglaubt, dass Frauen weniger Urteilsfähigkeit, Lebenserfahrung und Wissen hätten als Männer? Und ist das Argument also nicht dennoch in gewisser Weise stichhaltig?
Hinter diesem Gedankengang steht eine Vorstellung, die wir im Westen gerne im Hinblick auf unsere demokratische Tradition pflegen, und zwar die eines sukzessiven Fortschritts, der so ungefähr vom finsteren Mittelalter bis hin zu heutigen, aufgeklärten und gleichgestellten Zeiten geführt habe. Twittergemäß auf 140 Zeichen gebracht hat das @silkeNH: „Es ist nur konsequent. Zuerst sind wir die Unterscheidung nach Stand losgeworden, dann nach Geschlecht, jetzt ist Alter dran.“
Demnach wäre der Ausschluss der Frauen vom Wahlrecht letztlich einer Unaufgeklärtheit der damaligen Zeit zu verdanken, die wir heute überwunden haben. Und im Bezug auf Kinder hinken wir da eben noch hinterher.
Genau so war es aber nicht. Der Ausschluss der Frauen vom Wahlrecht war nicht einfach ein Versäumnis, das dem damaligen patriarchalen Zeitgeist geschuldet ist, sondern logische Folge einer bestimmten Politikvorstellung, die viel mehr umfasste, und deren negative Auswirkungen wir noch immer nicht überwunden haben.
Die Idee, dass alle Menschen gleich sind – und also zum Beispiel bei Wahlen jeder eine Stimme haben sollen – ist gerade mal 250 Jahre alt und wurde mit der französischen Revolution 1789 erstmals in die Realität umgesetzt. Vorher gab es die Idee der Gleichheit im Bereich des Politischen nicht. Und entsprechend gab es auch keine strikte Trennung zwischen den Geschlechtern im Bereich des Politischen. Frauen und Männer waren unterschiedlich einflussreich bei der Gestaltung der Welt, je nachdem ob sie Königinnen oder Knechte, reiche Händler oder arme Mägde, Äbtissinnen großer Klöster oder kleine Handwerker waren. Sicher hatten Männer im Durchschnitt mehr Einfluss als Frauen, aber das Frausein oder Mannsein war nur einer von vielen Faktoren, die dabei eine Rolle spielten.
Doch je gleicher die Männer sich wurden, umso „ungleicher“ wurden die Frauen. Die Frauen waren bei der Einführung des allgemeinen Wahlrechts nicht einfach nur „vergessen“ worden, sondern es war viel krasser: Die Frauen wurden aus der Politik exakt in dem Moment ausgeschlossen, als die Männer für sich die Gleichheit proklamierten. Weiblichen Geschlechts zu sein, war nun nicht mehr einer von mehreren Gründen, weshalb bestimmten Menschen politischer Einfluss verweigert wurde, sondern der einzige. Man könnte auch sagen, dass die Männer sich nach dem Wegfall der Standesgrenzen als demokratische Wesen explizit darüber definierten, dass sie keine Frauen waren.
Das blieb natürlich von Anfang an nicht unwidersprochen. Während das Kinderwahlrecht eine ziemlich junge Idee ist, die sich keineswegs logisch aus der Idee der allgemeinen Gleichheit der Menschen ergibt (schließlich werden damit nicht einzelne Menschen gegenüber anderen diskriminiert, denn ALLE Menschen sind zunächst Kinder und später Erwachsene, also in gleicher Weise betroffen), war der Ausschluss der Frauen von Anfang an Thema, weil er die logische Grundlage des „allgemeinen Wahlrechts“ in sich an ad absurdum führte.
Die französische Schriftstellerin Olympe de Gouges schrieb denn auch unmittelbar nach der Französischen Revolution ein Manifest für die Frauenrechte (und wurde dafür auf der Guillotine hingerichtet). Und sie war mit ihrer Position keineswegs eine frühfeministische Exotin. Viele Frauen und auch einige Männer machten das zum Thema. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war die Frage des Frauenwahlrechtes in linken, revolutionären Gruppen ständig auf der Tagesordnung.
Was aber war es, das die Mehrheit der Männer schließlich dazu brachte, die ureigensten Grundlagen ihrer Gleichheitsideen selbst zu konterkarieren, indem sie Frauen das Wahlrecht, ihre große demokratische Errungenschaft, verweigerten? Dahinter stand ein gesellschaftliches Problem, das sich unmittelbar aus der Gleichheitsidee ergab, für das aber damals (wie heute?) keine wirkliche Lösung gefunden wurde: Und zwar die Tatsache, dass Menschen zwar „als Idee“ als Gleiche angesehen werden können, es aber in der Realität normalerweise nicht sind.
So wie zum Beispiel Kinder ganz offensichtlich nicht gleich sind wie Erwachsene: Sie können nicht für sich selbst sorgen, wie müssen versorgt werden. Menschen treten im Status der größtmöglichen Abhängigkeit in diese Welt ein – sie werden geboren. Ohne Hilfe von anderen können sie keine zwei Tage überleben. Das heißt: Einfach nur die Gleichheit der Menschen zu proklamieren ist noch kein politisches Konzept. Gleichzeitig müssen Lösungen gefunden werden für all jene Situationen, in denen Menschen faktisch ungleich und damit bedürftig und abhängig sind.
Was sich hier letztlich stellt, das ist die soziale Frage: Das formale Wahlrecht hat noch nichts beizutragen zu sozialer Ungleichheit, die sich nicht nur durch die Gebürtigkeit der Menschen ergibt, sondern auch aus vielerlei anderer Ungleichheit. (Weshalb es auch kein Zufall ist, dass Simone de Beauvoir ihr Buch „Das andere Geschlecht“ wenige Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts in Frankreich schrieb: Sie zeigt darin, dass die Ungleichheit von Frauen und Männern dadurch keineswegs erledigt ist, weil sie viel tiefere kulturelle Ursachen hat).
Aber es geht um viel mehr als um die Benachteiligung von Frauen im Vergleich zu Männern. Es geht zum Beispiel auch um materielle Ungleichheit. „Das Gesetz in seiner erhabenen Gleichheit verbietet den Reichen wie den Armen, unter den Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen“ ist ein Anatole France zugeschriebener Spott, der das Ganze auf den Punkt bringt. Das war auch der Grund, warum auch für viele Frauen, speziell die Sozialistinnen, das Wahlrecht keineswegs ganz oben auf der Agenda stand: Sie fanden andere Probleme viel wichtiger.
Die Lösung, die die Männer damals für das Problem der faktischen Ungleichheit und der Bedürftigkeit der Menschen fanden, war letztlich ziemlich einfach, aber auch ganz schön dreist: Sie erklärten die Frauen für diesen Bereich der „privaten“ Bedürftigkeit zuständig. Die Frauen sollten sich zuhause um Kinder, Kranke, Alte und auch für die von der Arbeit erschöpften Ehemänner kümmern. Oder um die Wohltätigkeit.
Zu diesem Zeitpunkt, also am Ende des 18. Jahrhunderts, war jedenfalls noch überhaupt nicht die Rede davon, dass Frauen aufgrund irgendwelcher weiblichen „Defizite“ für die Politik nicht geeignet seien. Auch deshalb hinkt der Vergleich zwischen Frauen- und Kinderwahlrecht: Man hat die Frauen nicht deshalb vom Wahlrecht ausgeschlossen, weil man sie für dümmer oder unvernünftiger hielt, sondern weil man befürchtete, ihre politische Gleichberechtigung würde dazu führen, dass sie sich nicht mehr um jene anderen Aufgaben kümmern, die man von nun ab als „Frauenaufgabe“ definierte. Das wurde damals von Gegnern des Frauenwahlrechts auch ganz unverblümt so gesagt: Wenn die Frauen Politik machen, wer wäscht dann unsere Wäsche, wer erzieht die Kinder und kümmert sich um die Alten und Kranken?
Die Idee vom weiblichen Wesen, das angeblich nicht genug Urteilsfähigkeit und Wissen hat, um politisch mitreden zu können, entstand erst viel später, nämlich als Reaktion auf die weiblichen Proteste gegen diesen Ausschluss. Das Lob auf die Mütterlichkeit, auf weibliche Tugenden und so weiter war nichts anderes als eine nachträgliche Rechtfertigung dieser Ungerechtigkeit, sozusagen ein Trostpflaster. Dagegen hat ja der Feminismus zu Recht und auch erfolgreich protestiert. Ungelöst geblieben ist dabei aber immer noch das Problem, dass auch die andere Seite der Medaille, die Konstruktion von Männlichkeit und „Gleichheit“ als Gegenmodell dazu, kritisiert und hinterfragt werden muss.
Das heißt, die Parallelisierung von „Kinderwahlrecht“ und „Frauenwahlrecht“ ist nicht nur fragwürdig, weil hier eine mögliche Analogie zwischen weiblicher und kindlicher „Unfähigkeit“ zur Politik nahegelegt wird (die nichts ist als frauenfeindliche, patriarchale Propaganda). Sie ist auch heikel, weil sie die ideelle „Gleichheitsschraube“ noch eine Umdrehung weiter geführt wird.
Das verstehe ich, wohlgemerkt, nicht als prinzipielles Argument gegen das Kinderwahlrecht. Meinetwegen kann man es einführen oder auch nicht. Und vielleicht gibt es tatsächlich gute Gründe, die Entscheidung darüber, wann ein Kind als „mündig“ und wahlberechtigt gelten sollte, nicht von einem fixen Datum, sondern von der Selbsteinschätzung des Kindes abhängig zu machen, wie es im Piratenantrag vorgeschlagen wird.
Das hat aber nichts zu tun mit einer Lehre, die aus dem verweigerten Frauenwahlrecht zu ziehen wäre. Daraus ist vielmehr zu lernen, dass eine Politik, die lediglich die formale Gleichheit der Menschen betont, in der Praxis nicht ausreicht. Die Herausforderung der Politik spielt sich heute nicht so sehr auf der Ebene von Rechten ab (die Menschen per definition „als Gleiche“ behandeln), sondern vielmehr dort, wo wir Verfahren brauchen, wie Menschen auch dann gut und gerecht und zum allerseitigen Wohl miteinander umgehen können, wenn sie gerade nicht gleich sind. (Vor diesem Hintergrund ist auch meine Kritik an einer rein rechtlichen Gleichstellung unverheirateter Väter im Bezug auf das Sorgerecht zu verstehen).
Wohin eine Kultur führt, die sich als Ansammlung von beziehungslos Gleichen definiert, hat Olympe de Gouges im Übrigen bereits 1788, also ein Jahr vor der Französischen Revolution, kritisiert. In einem Aufsatz beschreibt sie mit Sorge eine gewisse Haltung, die sich unter den Wissenschaftlern, Handwerkern und Politikern ihrer Zeit breit machte. Im Zuge der beginnenden Industrialisierung, so de Gouges Kritik, würden sie zunehmend eigennützige Ambitionen verfolgen, ohne deren Auswirkungen auf die Gesellschaft allgemein zu berücksichtigen. Vor lauter Profitstreben würden sie ihren eigenen Platz innerhalb der menschlichen Gemeinschaft nicht mehr verstehen. Kommt uns das irgendwie bekannt vor?
De Gouges endet mit den Worten: „Wenn ich in dieses Thema noch weiter verfolge, würde ich zu weit gehen und die Feindschaft der Neureichen auf mich ziehen, die, ohne über meine guten Ideen nachzudenken oder meine guten Absichten anzuerkennen mich ohne Mitleid verurteilen würden als eine Frau, die nur Paradoxes anzubieten hat und keine einfachen Lösungen für die Probleme.“
Das Dilemma, das sie hier beschreibt, ist für kritische Feministinnen bis heute gültig.


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