Gerade habe ich wieder diskriminiert. Ich habe bestimmte Leute zu meiner Geburtstagsparty nächste Woche eingeladen – und andere nicht.
Wahrscheinlich würden die meisten Leute das nicht als Diskriminierung ansehen, schließlich ist es mein gutes Recht, zu einer Party einzuladen, wen ich will. Aber im eigentlichen Wortsinn bedeutet Diskriminieren – vom lateinischen discriminare – nichts anderes als „trennen, eine Unterscheidung treffen“. Und ist insofern ein notwendiges Verfahren, ja, vielleicht die Voraussetzung für jegliches Denken und Handeln schlechthin.
Nun ist der Idealfall des „Diskriminierens“ vielleicht so, wie ich es hier gemacht habe: Jeden einzelnen Fall anschauen und individuell entscheiden, wie er zu behandeln ist. Im normalen Alltag und schon gar in der Politik ist das aber kein praktikables Vorgehen. Deshalb werden Diskriminierungen meist anhand von äußeren Kriterien vorgenommen: Nur wer 18 ist, darf wählen, nur wer Abitur hat, darf studieren, nur wer einen deutschen Pass hat, bekommt staatsbürgerliche Rechte, nur wer soundsoviel verdient, darf in die private Krankenkasse.
Die meisten dieser Grenzziehungen finden wir im Allgemeinen ganz okay, auch wenn sie im Einzelfall ungerecht sein können. Oder ist es gerecht, wenn die am 28. Oktober geborene Petra wählen darf, die am 29. geborene Anna aber nicht – bloß, weil die Wahlen zufällig auf den 28. Oktober fallen?
In der Alltagssprache beziehen wir das Wort „Diskriminierung“ aber nur auf solche Fragen, in denen das Kriterium, nach dem die Unterscheidung vorgenommen wird, uns als falsch oder sachfremd gilt. Wenn etwa Frauen aufgrund ihres Geschlechtes oder Menschen wegen ihrer Hautfarbe oder Religion oder sexuellen Orientierung von den anderen „unterschieden“ werden – weil es dafür, aus unserer Sicht, keinen sinnvollen Grund gibt.
Allerdings hat der Vorwurf der „Diskriminierung“ inzwischen einen inflationären Gebrauch angenommen. Sobald man überhaupt nur irgendeine Unterscheidung vornimmt, die irgendjemandem nicht gefällt, kommt der Vorwurf der Diskriminierung. Aber ohne Diskriminierung, ohne Unterscheidungen, kommen wir nicht aus. Worum es eigentlich geht, ist die Frage, ob wir diese jeweilige Unterscheidung richtig oder falsch finden.
Eigentlich ist Politik zu großen Teilen genau das: Darüber zu verhandeln, welche Grenzen sinnvoll sind und welche nicht. Wer etwas gegen „falsche“ oder „schlechte“ Diskriminierungen unternehmen will, sollte das wissen und berücksichtigen.
Zumal die Abschaffung einer Diskriminierung erfahrungsgemäß den unangenehmen Nebeneffekt haben kann, dass andere Diskriminierungen eingeführt oder verstärkt werden. So hat historisch die Abschaffung der Diskriminierung aufgrund von Standeszugehörigkeit (im Gefolge der Französischen Revolution) in Westeuropa dazu geführt, dass die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts größer geworden ist.
Hinzu kommt, dass die Abschaffung von Diskriminierung zu neuen Ungerechtigkeiten führen kann, wenn reale Unterschiede nicht berücksichtigt werden. So hat die formale Gleichstellung der afroamerikanischen Bevölkerung noch nichts an schlechteren wirtschaftlichen und bildungsmäßigen Benachteiligungen verändert. Als Gegenmittel wurde die so genannte „affirmative action“ erfunden, also die gezielte Bevorzugung zum Beispiel von nicht-weißen Studentinnen und Studenten bei der Vergabe von Stipendien. Konservative Leute drehen da gerne den Spieß um und rufen „Diskriminierung“. Da gerät nur ins Stottern, wer sich die Abschaffung jeglicher Diskriminierung auf die Fahnen geschrieben hat. Geht man davon aus, dass es Diskriminierung immer gibt und die Frage, über die zu verhandeln wäre, lediglich die ist, welche Diskriminierungen, also Unterscheidungen, wir sinnvoll finden und welche nicht – dann kann man gelassen sagen: Ja, klar ist das Diskriminierung. Aber eine, die wir sinnvoll finden, aus Gründen.
Ein weiterer unangenehmer Nebeneffekt der Abschaffung von Diskriminierungen ist, dass dadurch ein Anpassungsdruck auf Seiten der ehemals Diskriminierten in Richtung auf die dominante Mainstream-Kultur entsteht: Seitdem Frauen in Westeuropa nicht mehr diskriminiert werden, müssen sie ständig beweisen, dass sie „ihren Mann stehen“ können. Und der Preis für die – bisweilen bloß angestrebte – Nicht-Mehr-Diskriminierung von „Ausländerinnen und Ausländern“ in Deutschland ist ihre „Integration“ in eine deutsche Leitkultur, die im Verständnis der meisten Leute nichts anderes sein darf, als ihre Assimilation.
Problematisch ist es auch, wenn Unterscheidungen in der Theorie aufgehoben werden (unter dem Banner der Abschaffung von Diskriminierung), während die Realität aber eine ganz andere ist. So ist derzeit der Versuch im Gange, die Unterscheidung zwischen Müttern und Vätern aufzuheben („Diskriminierung!“ rufen Väterrechtler ja neuerdings gerne) – obwohl es weiterhin erhebliche Unterschiede im Verhalten und in den Lebensumständen von Vätern und Müttern gibt, die sich im Kern auch nicht abschaffen lassen: Mutterschaft bedeutet unweigerlich, ein Baby neun Monate lang im Bauch herumzutragen und es schließlich zu gebären, während Vaterschaft sich darauf beschränken kann, einmal Sex gehabt zu haben.
Auch hier geht es aber nicht um die Frage, ob diskriminiert, also unterschieden wird, sondern ob die jeweilige Unterscheidung sinnvoll ist. „Das ist Diskriminierung“ ist daher für sich genommen überhaupt kein Argument. Die Frage, die wir uns – als Menschen, die gute und gerechte Lebensbedingungen für alle anstreben (und ich gehe mal davon aus, dass wir uns darauf als Ziel verständigen können) – stellen müssen, ist nicht: Wie man jegliche Diskriminierung abschafft. Sondern: Welche Diskriminierungen wir für richtig halten und welche für falsch.
Und die zweite Frage ist dann: Wie wir für eine Veränderung im Hinblick auf das Bessere eintreten können.
Dafür ist eine Sache wichtig: Diskriminierungen sind nichts, was sich am grünen Tisch einfach so „einführen“ oder „abschaffen“ ließe, sondern sie stehen in einem Austausch mit tief sitzenden und historisch gewachsenen gesellschaftlichen Übereinkünften. Hätte zum Beispiel Thilo Sarrazin seine Diskriminierungen nicht anhand der Grenze „Muslime“ und „Nicht Muslime“ vorgenommen, sondern – nur so zum Beispiel – anhand von „kleingewachsenen“ und „großgewachsenen“ Menschen, hätten ihm wahrscheinlich alle einen Vogel gezeigt.
Das Perfide an „falschen“ Diskriminierungen, die aber dennoch auf gesellschaftliche Resonanz stoßen, liegt darin, dass sie vielen Leuten „irgendwie“ plausibel erscheinen. So wie die Diskriminierung von Frauen über Jahrhunderte hinweg den Leuten (nicht nur den Männern, auch den Frauen) keineswegs so absurd vorkam, wie heute uns, sondern sinnvoll und quasi naturgegeben.
Will man falsche Diskriminierung bekämpfen, kommt es also darauf an, diese Plausibilität zu verringern. Das sachliche Argument ist dabei eines. Die Veränderung der Realität ist aber genauso wichtig: Nur als Wechselspiel zwischen einer sich verändernden Realität und der Art und Weise, wie die Realität in Worte gefasst wird, kann sich etwas bewegen, was dann wiederum die Veränderung der Realität beschleunigt, und so weiter, in einer Art Schneeballsystem.
Eine Schlüsselrolle dabei haben natürlich diejenigen, die zu der diskriminierten Gruppe gehören: Zentral wichtig für die Abschaffung der Frauendiskriminierung war, dass Frauen aufgehört haben, die Zuschreibungen zu akzeptieren, die ihnen aufgrund ihres Geschlechtes zugeschrieben wurden. Sie haben angefangen, sich anders zu verhalten. Und sie haben anders über das Frausein gesprochen. Und damit ist die Plausibilität dieser Zuschreibung nach und nach ausgehöhlt worden.
Ein Faktor, der dabei wesentlich war, der mir in der herkömmlichen Diskussion aber meistens zu kurz kommt, ist die Freude, die das bereitet. Wie lustvoll die Frauenbewegung in den 1970er Jahren war, wissen heute viele nicht mehr. Aber alle, die mir davon erzählt haben, bekommen glänzende Augen, wenn sie begeistert von dieser tollen Zeit erzählen.
Wieso tolle Zeit? Lebten sie, die Frauen damals, nicht noch unter unerträglich diskriminierenden Verhältnissen – verglichen mit uns Frauen heute? Ja. Und dennoch hatten sie Spaß an ihrem Engagement. Ich glaube, diese Begeisterung ist ein entscheidender Hebel für politische Bewegungen, die von denjenigen Menschen getragen werden, die zu einer diskriminierten Gruppe gehören: Ja, es ist ungerecht, dass sie gerade hier und jetzt geboren werden, in einer Zeit und in einer Gesellschaft, die sie aufgrund irgendwelcher äußeren Faktoren von anderen unterscheidet, die sie diskriminiert. Aber: Sie sind diejenigen, die gerade deshalb erkennen, dass etwas falsch läuft. Und die, bewegt von diesem Wissen, die Welt verändern können.


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