Ich lese grade den Streit zwischen Sascha Lobo und Lantzschi über die 50-Prozent-Frauen-in-Blogrolls-Quote nach und dabei ist mir ein Thema wieder eingefallen, das ich schon immer mal loswerden wollte. Es geht um die Frage: Wie ist man richtig radikal?
Meine These dazu ist Folgende: Richtig radikal ist man, indem man die Leute, mit denen man es grade zu tun hat (also in einer bestimmten, konkreten Situation, in diesem Blog, bei dieser Diskussion, in diesem Meeting, an diesem Kaffeetisch), genau so weit herausfordert, wie es eben noch möglich ist, ohne dass die Beziehung zerbricht.
Entstanden ist diese These aus meiner schon sehr alten Unzufriedenheit mit einer gewissen Angewohnheit in linken, radikalen, auch in feministischen Kreisen, die darin besteht, immer eine noch möglichst „radikalere“ Theorie zu entwickeln. Dahinter steckt implizit die Vorstellung, politische Ideen würden sich fortschrittsmäßig von eher falschen zu eher richtigen Ideen entwickeln. Jede neue Theorie hat immer wieder irgendwelche Schwächen, die dann aufgedeckt und noch weiter „radikalisiert“ werden. Den daraus entstehenden Wettstreit darüber, wer denn nun „radikaler“ ist, fand ich lange Zeit bloß langweilig, inzwischen halte ich es für einen komplett falschen Ansatz.
Die Gegenseite davon (im Sinne der anderen Seite der Medaille) sind diejenigen, die anderen „übertriebene Radikalität“ vorwerfen, mit Redewendungen wie „jetzt treibst du es aber zu weit“ oder „das ist jetzt aber über das Ziel hinaus geschossen“ und dergleichen. Man kann aber nicht „zu radikal“ sein, und es geht nicht darum, einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden.
Mein Problem mit dieser Art von Diskussionen ist, dass dabei die Theorie oder die Analyse oder das eigene Urteil quasi losgelöst vom Kontext und von den konkreten Beziehungen, in denen sie geäußert werden, betrachtet wird. So als wäre da zunächst die Theorie, die „objektiv“ richtig oder falsch, besser oder schlechter ist, und erst in einem zweiten Schritt wird diese Theorie dann „verbreitet“.
Meiner Erfahrung nach funktioniert Politik so nicht. Sondern Politik ist ein ständiges Verhandeln zwischen Differenzen, die Sache mit der Pluralität eben. Es ist eine Wechselwirkung von Beziehungen, Austausch und dem Herausbilden von Einsichten und Positionen, die dann ihrerseits wieder verhandelt, revidiert und so weiter werden. Weder kann man Beziehungen losgelöst von dem eigenen politischen Urteil und dem der anderen sehen (zum Beispiel kann ich mir kaum vorstellen, mit einem Neonazi oder einem Maskulinisten „privat“ befreundet zu sein), noch kann man aber die Theorie losgelöst von den Beziehungen sehen. Mein jeweiliges Urteil zu einer bestimmten Frage ist immer das vorläufige Ergebnis der Summe aller Gespräche und Gedanken und Gespräche und Gedanken, die mit mir als Akteurin bis heute dazu stattgefunden haben.
Andere Leute mit anderen Historien und anderen Beziehungen und anderen Gedanken, die sie bis heute gedacht haben, kommen zu anderen Positionen und Urteilen. Es ist möglich, dass sie bisher die – aus meiner Sicht – falschen Beziehungen und/oder falschen Gedanken hatten – das ist der erste Impuls, mit dem ich mir ihre von meinem Urteil abweichende Meinung erstmal erkläre. Aus Erfahrung (ich habe in der Vergangenheit auch schon vieles ganz überzeugt vertreten, das ich inzwischen für falsch halte) muss ich aber auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass ich es bin, die auf dem falschen Dampfer ist. Und dass ich von der anderen, der mit der anderen Meinung, möglicherweise etwas lernen kann.
Es gibt keine objektive Möglichkeit, das herauszufinden oder zu beweisen. Aber es gibt dazu eine Praxis, und sie besteht genau in dem, was ich oben beschrieben habe: den oder die andere im Gespräch genau so weit herauszufordern, wie es eben noch möglich ist, ohne dass die Beziehung zerbricht. Politische Ideen sind nicht einfach da und lassen sich durchdrücken, sondern sie müssen vermittelt werden. Es genügt nicht, recht zu haben (selbst wenn man jetzt mal annimmt, was man ja normalerweise tut, dass man mit dem eigenen Urteil recht hat), sondern es ist notwendig, dieses eigene Urteil den anderen so zu vermitteln, dass es bei ihnen etwas bewirkt, sie dazu bringt, ihre bisherigen Gewissheiten zu überdenken. Ich muss die anderen überzeugen, und das funktioniert nicht, indem ich sie belehre, sondern nur, indem ich mich auf eine Beziehung zu ihnen einlasse, was notwendigerweise bedeutet, dass ich auch offen bin für ihre Argumente und mich dem Risiko aussetze, dass am Ende nicht ich die andere überzeugt habe, sondern sie mich.
Diese Vermittlung geschieht nicht aus Nettigkeit, sondern aus Notwendigkeit: Anders wird meine Idee nämlich nichts in der Welt bewirken.
(Natürlich kann ich die anderen auch zwingen, aber erstens ist das nicht sonderlich nachhaltig, und zweitens geht das nur aus einer Machtposition heraus, und die habe ich normalerweise nicht, jedenfalls nicht, wenn ich herrschaftskritische Positionen vertrete. Ein Teil der Linken hat immer davon geträumt, die Macht zu erringen und die Welt dann so einzurichten, wie es ihnen gefällt, aber der Ausgang war meistens katastrophal).
Diese Praxis der „kontextbezogenen größtmöglichen Radikalität“ ist keine leichte. Die Versuchung ist groß, entweder (in einer bestimmten Situation) „um des lieben Friedens willen“ Konflikte zu vermeiden und Differenzen unter den Teppich zu kehren (also die anderen nicht allzu sehr herauszufordern), oder aber die eigene Position so „unvermittelt“ zu vertreten, dass die Beziehung darüber in die Brüche geht. Letzteres kann manchmal tatsächlich notwendig sein, oder jedenfalls unumgänglich, Beispiel der Neonazi von nebenan. Aber trotzdem bedeutet das dann auch faktisch, dass es an diesem Punkt keine Möglichkeit irgendeiner Vermittlung mehr gibt, mit all den Problemen, die daraus folgen.
Der Vorteil dieser Praxis ist aber, dass ich keine Revolution abwarten muss, um damit anfangen zu können. Es geht gleich hier und jetzt.

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