Man kann im Internet eine falsche Identität vortäuschen, das ist lange bekannt. Und man kann sie sogar sehr gut vortäuschen, wie Tom Mac Master uns gerade bewiesen hat: Mit seinem Blog „Gay Girl in Damascus“, in dem er so tat, als sei er eine junge lesbische Aktivistin in Syrien, hat er weltweite Aufmerksamkeit bekommen hat. Viele haben ihm geglaubt.
Die moralische Entrüstung ist nun groß, und natürlich ist auch der Schaden groß. “You took away my voice, Mr MacMaster, and the voices of many people who I know” schreibt etwa Daniel Nassar, Herausgeber des Gay Middle East blog. „Weiße Privilegienpimmel, die sich als Lesbians of Color ausgeben. Diese Form von Gewalt ist perfide, ekelerregend und macht sprachlos“, twitterte @lantzschi.
Aber mit Moral kommt man im Bereich des Politischen nicht weit. Das Ganze ist nur zum Teil eine ethische Frage, sondern es ist eigentlich eine erkenntnistheoretische: Inwiefern hängt die eigene Identität mit dem Inhalt dessen, was man sagt, zusammen? Tom Mac Master etwa versteht das Problem nicht. Er verteidigt sich mit dem Argument, dass er zwar nicht sei, wer er vorgegeben hat, zu sein, aber was er geschrieben hat, war doch richtig? Und man muss zugeben: Das war es ja offenbar auch, wenn viele es so gut fanden und sogar große internationale Medien ihn/sie um Interviews baten.
Was also macht die Aussage einer lesbischen Syrierin zu einer solchen? Die mediale Antwort ist klar: Die Medien schätzen es, wenn eine lesbische Syrierin möglichst gut, mitreißend und eloquent das sagt, wovon sie glauben, dass eine lesbische Syrierin es so sagt. Und genau das hat Tom Mac Master geliefert. Etwas anderes konnte er ja auch gar nicht liefern, weil er nämlich keine lesbische Syrierin ist, sondern ein amerikanischer Student. Er musste also sich vorstellen, was eine lesbische Syrierin wohl so sagen würde, und das hat er – offenbar sehr überzeugend – aufgeschrieben.
Genau so funktioniert mediale Aufbereitung von politischer Dissidenz generell: Zu Wort kommt und Aufmerksamkeit bekommt, wer als Teil einer identitären Gruppe möglichst das aufschreibt, was man im Allgemeinen von einer Person aus dieser Gruppe erwartet. Bricht eine Person diese Erwartungen, wird es kompliziert, stimmt nicht mehr mit den üblichen Zuweisungen und Vorurteilen überein, erfordert Differenzierungen – und schon ist kein Platz mehr dafür in den Medien.
In meinem Text „Jenseits von Mainstream und Nische“, den ich für das demnächst erscheinende Buch „Soziale Bewegungen und Social Media“ geschrieben habe, geht es genau um dieses Thema. Darin vertrete ich die These, dass das Internet helfen kann, dieser Verengung in den Mainstreammedien entgegen zu treten.
Nach der Mac-Master-Affäre muss ich präzisieren: Das stimmt nur dann, wenn wir die Vernetzung über das Internet bewusst und aktiv mit körperlichen Begegnungen kombinieren. Politischer Aktivismus nur über das Netz reicht nicht. Denn es gibt nur genau eine Möglichkeit, um zu überprüfen, ob diejenigen, mit denen wir uns via Internet vernetzen, auch die sind, die sie vorgeben, zu sein: Wir müssen sie treffen. Körperkontakt haben, sozusagen.
Tatsächlich merke ich an mir selbst, dass das Bedürfnis, Menschen auch persönlich zu treffen, mit denen ich mich im Internet anfreunde, sehr groß ist. Inzwischen habe ich auch schon viele getroffen. Von ihnen weiß ich, dass sie „echt“ sind und kein Fake. Und ich habe auch gemerkt, dass ich sie dann jedes Mal nach anderen ausfrage: Kennt Ihr die und den? Habt Ihr die schon gesehen?
Das ist kein Voyeurismus. Sondern Zeuginnenschaft. Wenn @ihdl mir erzählt, dass sie @lantzschi schon getroffen hat, dann bezeugt sie mir gegenüber deren Echtheit. Die Frage ist dann quasi nicht mehr, ob @lantzschi überzeugend vorgibt, die zu sein, die sie behauptet, sondern die Frage ist, ob ich @ihdl glaube, von der ich ja schon mal weiß, wer sie ist, jedenfalls so grob.
Die Frauenbewegung (und, wie ich meine, jede ernst zu nehmende soziale Bewegung) ist eine Bewegung persönlicher Beziehungen. Eben deshalb, weil es darum geht, von der eigenen Position ausgehend Neues zu denken. Also um zu erfahren, was die lesbische Syrierin möglicherweise anderes denkt, als ich selbst – die ich nämlich eine heterosexuelle Deutsche bin – mir vorstellen könnte, was eine wie sie sagen würde.
Diese Möglichkeiten sind im Internet viel besser geworden als früher. Aber eben nur dann, wenn ich mir sicher sein kann, dass die anderen kein Fake sind. Das lässt sich über moralische Forderungen nicht gewährleisten. Wir kommen, Internet hin oder her, nicht ohne Treffen aus. Nicht ohne Zeuginnenschaft für die Echtheit der anderen. Nicht ohne gemeinsames „Denken in Gegenwart“, wie Chiara Zamboni es formuliert hat. Ohne das laufen wir Gefahr, den Klischees unserer eigenen Vorurteile zum Opfer zu fallen.
Kurz und gut, wir müssen, hin und wieder, gleichzeitig im selben Raum sein. Kein Medium – auch nicht das Internet – kann das jemals ersetzen.


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