Schon seit längerem denke ich darüber nach, warum die Liebe eigentlich so oft als Problem gesehen wird, während sie doch in Wirklichkeit etwas Großartiges und Schönes ist. Hier meine Idee, die noch etwas über das hinausgeht, was Eva Illouz als Problem der spezifisch mittelständisch-bürgerlich-romantischen Liebesbeziehung ausmacht.
Und zwar ist meine These, dass das Problem heute nicht in der Liebe als solcher liegt, sondern darin, die Liebe in ein bestimmtes Lebensprojekt zu überführen – was die bürgerliche Hetero-Paarbeziehung sein kann (die heute manchmal auch homosexuell ist), aber nicht muss. Das Projekt kann auch eine polyamore Beziehungsstruktur sein oder aber auch die Liebe zu einem Beruf oder zu einem politischen Engagement. Der Irrtum unserer Kultur besteht nun darin, dass wir glauben, dass aus der Liebe automatisch oder zwangsläufig ein gelungenes Projekt hervorgehen muss, und wenn das nicht der Fall ist, dann muss irgend etwas falsch gelaufen sein.
Doch Liebe und Projekte existieren erst einmal getrennt voneinander. Man wünscht sich für das eigene Leben ein Projekt – zum Beispiel möchte man Kinder haben, ein Haus bauen, einen sinnvollen Beruf ausüben oder etwas dergleichen. All das kann man auch ohne Liebe, gewissermaßen rein pragmatisch angehen. Man braucht für solche Projekte zwar andere Menschen, aber das müssen nicht Menschen sein, die man liebt, es können auch Menschen mit gleichen Interessen sein, Menschen, die von der Einstellung und vom Lebensstil her ähnlich sind, mit denen man gut kooperieren kann.
Allerdings funktionieren diese Projekte besser, wenn Liebe dabei im Spiel ist, Begehren. Ich kann einen Mann heiraten, ein Haus bauen, Kinder kriegen, ohne diesen Mann zu lieben. Aber wenn Liebe dabei ist, ist es schöner. Ich kann Rechtsanwältin oder Managerin werden, weil ich mir das vorgenommen habe (etwa nach einem Vergleich der Einkommens- und Karrierechancen verschiedener Berufe). Aber wenn ich genau diese Tätigkeit auch liebe, wenn mein Begehren darin steckt, ist es schöner. Ich kann Umweltaktivistin oder Tierschützerin werden, weil ich rational einsehe, dass das wichtig ist oder weil ich Leute getroffen habe, die mich dazu überreden, aber wenn genau bei diesem Thema auch mein innerstes Herzblut dran hängt, ist es schöner.
Liebe, so behaupte ich, ist keine Sache an sich, Liebe ist kein Substantiv. Sie ist eher ein Adjektiv, eine bestimmte Qualität, die eine Beziehung hat – oder eben nicht. Es gibt Beziehungen zu Menschen, zu Tätigkeiten, zu Dingen mit und ohne Liebe, aber wenn Liebe dabei ist, sind diese Beziehungen schöner. Dann eröffnen sich mehr Möglichkeiten, dann ist Strom drauf.
Allerdings wird Liebe bei uns nicht so gesehen. Liebe wird als etwas begriffen, das zu bestimmten Lebensprojekten unabdingbar dazu gehören soll (die Paarbeziehung, die Familie), bei anderen Lebensprojekten aber als verzichtbar oder nebensächlich angesehen wird (die Arbeit, die Politik). Und das ist meiner Ansicht nach das Problem.
Denn wenn diese große motivierende Kraft, die das Begehren, die Liebe, darstellt, eingehegt wird auf ein bestimmtes Projekt (die Paarbeziehung), dann wird dieses Projekt schlicht überfordert, während alle anderen Projekte tendenziell lieblos werden.
Das führt dann dazu, dass, wenn ich mich zum Beispiel in einen Menschen verliebe und er oder sie sich idealerweise auch in mich, viele glauben, sich damit auch auf ein bestimmtes Lebensprojekt festzulegen. Wenn sich aber nun herausstellt, dass die beiden im Bezug auf Paar-Haus-Kinder unterschiedliche Vorstellungen in ihrem Leben haben, ist das Problem da. Man hält die Liebe für gescheitert, findet die anderen egoistisch, hat den Eindruck, dass irgendetwas falsch läuft und geändert werden muss.
Hierher rührt die falsche Auffassung, die neuerdings überall zu hören ist, dass zu viel Freiheit ein Problem für die Liebe sei. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Die Freiheit, die liberale Gesellschaften uns bieten – dass wir unsere Lebenspartner_innen nicht nur aus derselben Kultur oder Klasse oder aus einem bestimmten Geschlecht auswählen können, dass auch unser Lebensweg nicht vorherbestimmt ist, sondern dass wir bei all dem dem „Ruf der Liebe“ folgen können, wenn man es mal so platt sagen will – ist eine großartige Möglichkeit und erweitert das Potenzial der Liebe.
Das einzige, was wir uns dabei klar machen müssen, ist dass zwei Menschen, die sich lieben, deshalb noch nicht automatisch dieselben Projekte verwirklichen wollen. Früher wollten sie das aber auch nicht. Früher war es nur so, dass die Menschen in der Wahl ihrer Projekte weniger frei waren als heute, und dass danach, ob dabei Liebe im Spiel ist, meistens gar nicht erst gefragt wurde.
Das Leben ist schlicht und einfach besser und schöner, wenn ich mehr Möglichkeiten habe, meinen Liebesimpulsen zu folgen. Aber die Liebe ist eben bloß ein erster Motivationsschritt, eine Kraft, die mir Orientierung gibt, weil ich von irgendetwas oder irgendjemandem angezogen werde, sie ist noch nicht die ganze Geschichte. Die Liebe überwindet Anfangsschwierigkeiten, denn sie steht über der Vernunft. Die Liebe macht es möglich, dass ich mich mit Menschen beschäftige und ihnen Aufmerksamkeit schenke, die die Vernunft gleich als ungeeignet aussortieren würde. Die Liebe bringt mich dazu, Projekte anzugehen, auch wenn sie erst mal unmöglich oder viel zu schwierig zu sein scheinen. Liebe ist ein Anreiz, eingefahrene Bahnen zu verlassen, wer liebt ist mutig und stark.
Aber die Liebe ist kein Ersatz dafür, dass ich mir überlege, welches denn meine Lebensprojekte sind, was ich überhaupt will. Die Liebe bietet zwar Orientierung und öffnet Türen – aber dann muss ich eben auch noch überprüfen, ob ich dahin, wohin sich eine Tür öffnet, überhaupt gehen will. Die Liebe, für sich genommen, ist inhaltsleer. Sie bedeutet noch nicht, dass danach dieses oder jenes getan wird. Und deshalb muss ich auch akzeptieren, wenn andere vielleicht nicht unbedingt durch die Türen gehen wollen, die ihnen ihre Liebe zu mir öffnet. Ich kann nicht erwarten, dass sich jemand, nur weil er mich liebt, sich denselben Projekten verschreibt, die mir in meinem Leben wichtig sind.
Wenn zwei sich lieben, dann sind ihre Projekte nicht automatisch dieselben, das muss anschließend noch verhandelt werden. Allerhöchstens erhöhen sich die Chancen, dass sie etwas Gemeinsames finden. Vielleicht aber auch nicht, vielleicht sind ihre Ansichten, Wünsche, Gewohnheiten, Ziele einfach zu unterschiedlich. Dann trennen sie sich wieder und es war trotzdem eine schöne Zeit und kein Scheitern.