
Na klar, ich weiß auch nicht, was im Kopf von Angela Merkel vor sich geht, aber was ich weiß ist, dass ich die übliche Gewinner-und-Verlierer-Logik der politischen Analysen absolut nervig finde.
Michael Seemann twitterte vorhin:
Und nun zu den analysen: gauck ist merkels meisterwerk: http://t.co/aNtwLSBu vs. merkels größte schmach: http://t.co/uh0SpUJi wer hat recht?
Wirklich tolle Kategorien: Triumph oder Schmach. Das zeigt schon das ganze traurige Ausmaß der Desolatheit unserer offiziellen politischen Unkultur. Offensichtlich ist es in dieser verquarzten Logik gar nicht mehr möglich, Dinge, die geschehen, in ihrer ganz normalen Normalität zu sehen. Natürlich hat keiner der beiden Kommentatoren Recht, denn sie spielen auf einer idiotischen Skala. Nämlich auf der Skala pseudo-strategischer Ausgebufftheit, die in weiten Bereichen dessen, was heutzutage „öffentlich“ genannt wird, inzwischen so vorherrschend ist, dass man sich nicht wundern muss, dass immer mehr Menschen (deutlich mehr Frauen als Männer) sich davon fernhalten.
Warum Angela Merkel ihren Job eigentlich noch nicht hingeschmissen hat, frage ich mich übrigens jedes Mal, wenn ich etwas über sie lese.
Ich bin ein gutgläubiger Mensch. Wenn mir jemand erzählt, draußen vor dem Fenster ist ein UFO gelandet, dann glaube ich das solange, bis ich Grund habe, es anzuzweifeln. Ich bin mit diesem Vorgehen (das übrigens unverzichtbar ist für den Austausch mit Anderen, Fremden, Unbekannten) bisher sehr gut gefahren, und ich möchte es auch in den Bereich der Politik zurück holen.
Meine Geschichte geht daher so:
Angela Merkel wollte Gauck nicht haben, und es gibt keinen Grund, das nicht zu glauben und ihr irgendwelche macchiavellistischen Strippenziehereien zu unterstellen. Dass Merkel Gauck nicht wollte, damals nicht und jetzt eigentlich auch noch nicht, gibt mir übrigens ziemlich zu denken. Denn ich halte Merkel für einen klugen Kopf, und sie kennt Gauck sicherlich besser als ich. Sie wird ihre Gründe haben, fürchte ich.
Es muss jedenfalls nicht groß machtpolitisch herumspekuliert werden, warum Merkel damals statt Gauck Wulff vorgeschlagen hat. Gründe liegen schließlich offen zutage. Zum Beispiel wäre da die Kleinigkeit, dass Wulff inhaltlich der bessere Präsident war. Leider stellte er sich als korruptionsanfälliger Hallodri heraus. Hätte Merkel das wissen müssen? Hätte sie wissen müssen, dass Guttenberg ein Plagiator ist?
Wenn ich ihr eine Strategie raten müsste, dann vielleicht die, prinzipiell keine Männer um die Vierzig mehr für irgendwas zu nehmen, aber ich fürchte, das wäre nicht praktikabel.
Wie auch immer: Jetzt wollte Merkel Gauck immer noch nicht haben. Aber es formierte sich schnell eine Front gegen sie: SPD und Grüne rieben sich die Hände, ha, IHR toller Kandidat wäre natürlich besser gewesen. Und die FDP fällt Merkel sowieso zuverlässig in den Rücken, hat ja auch schon längst nichts anderes, womit sie sich profilieren kann.
Vielleicht irre ich mich, und Grüne, SPD und FDP finden tatsächlich, dass Gauck ein inhaltlich guter Präsident ist und ihr Traumkandidat, ich kann ja in ihre Köpfe nicht hineinschauen. Aber, wie gesagt, dass Merkel ihn nicht wollte, macht mich skeptisch. Ich fürchte, an diesem Punkt hat der oben verlinkte Tagesspiegel-Kommentar recht, und es ist bei den Gauck-Vorschlagenden zumindest auch eine Portion Populismus und „Hauptsache dem Gegner schaden“-Denke im Spiel.
Muss man lange spekulieren, warum Merkel Gauck nun doch genommen hat? Überhaupt nicht! Es ist doch ganz offensichtlich, dass das jetzt das einzig Realistische war, das sie machen konnte. Hätte sie sich in die machtpolitischen Kampfarenen hineinbegeben, die ihr von allen Seiten hingehalten wurden, hätte sie kaum noch Zeit für ihre eigentlichen Aufgaben, das Regieren nämlich, gehabt. Aber das ist es, was ihr wirklich Spaß macht (und, nebenbei, es ist auch wichtiger als die Frage, wer Bundespräsident ist).
Man kann mit den eigenen Forderungen an jedem Ort immer nur bis an die Grenzen des Möglichen gehen (oder ein kleines bisschen darüber hinaus), und bei einer Bundeskanzlerin sind diese Grenzen sehr viel enger gesteckt als, nur so zum Beispiel, bei einer frei bloggenden Politikwissenschaftlerin.
Diese engen Grenzen hat Merkel, deren Pragmatismus ich übrigens wirklich großartig finde (bei aller inhaltlichen Differenz, die ich zu ihr habe), ganz einfach realistisch eingeschätzt und entsprechend gehandelt. Schnell und unprätentiös und ohne großes Tamtam und Gorilla-auf-die-Brust-Klopfen. So wie das halt ihre wohltuende Art ist.
Ich persönlich hätte mir zwar gewünscht, dass Merkel für Petra Roth kämpft, aber das kann ich natürlich leicht dahin sagen. Ich muss es schließlich nicht im alltäglichen Politzirkus in Berlin in die Realität umsetzen.
Meine Vermutung ist – als Politikwissenschaftlerin gehört es ja auch zu meinem Job, ab und zu ein bisschen Kaffeesatz zu lesen – dass Merkel der Ansicht ist, eine weibliche Doppelspitze sei in Deutschland noch nicht durchsetzbar. Und da sie selbst an ihrem Job offensichtlich großen Spaß hat (zum Glück), hätte sie sich selbst natürlich mit einer Bundespräsidentin einen Bärendienst erwiesen. Zumal mit einer, die sie gegen den Kandidaten der deutschen Herzen hätte durchkämpfen müssen.
Aber ist es Merkels Schuld, dass solche Überlegungen in Deutschland im Jahr 2012 noch angestellt werden müssen? Schwerlich. Es ist (unter anderem auch) ihr Verdienst, dass sie wenigstens schon mal angestellt werden können.
Um zur Eingangsfrage zurück zu kommen: Ist Gaucks Wahl nun für die Kanzlerin eine Schmach oder ein Triumpf?
Dazu kann ich nur sagen: Geht doch Aussterben, liebe politische Kommentatoren. Um Angela Merkel und ihre Politik (und, wie ich überzeugt bin, die Politik von Frauen generell) verstehen zu können, müsst ihr erst mal eure Denkschablonen erneuern.

Was meinst du?