
Heute stolperte ich über einen Artikel, in dem beklagt wird, dass offenbar viele Operationen heute eher aus betriebswirtschaftlichen denn aus medizinischen Gründen durchgeführt werden: Sie rechnen sich für das Krankenhaus. Moralisch wird dann in dem Artikel noch auf die bösen Ärzte und Krankenhausleitungen geschimpft.
Ich finde sowas immer ein bisschen daneben, denn man kann politische Fragen nicht mit moralischen Kategorien lösen. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten Rahmenbedingungen geschaffen, die konsequent von den im „Gesundheitsbetrieb“ Tätigen betriebswirtschaftliches Verhalten einfordern – also warum sich nun wundern, wenn sie sich auch tatsächlich so verhalten?
Schon vor vielen Jahren hat mir eine befreundete Krankenschwester von dieser Entwicklung erzählt: Zuerst sei die „medizinische Indikation“ (Behandlungen werden aus medizinischen Gründen angeordnet) durch eine „juristische Indikation“ abgelöst worden (Behandlungen werden angeordnet vor dem Hintergrund, ob Patientinnen Regressforderungen stellen können) – was bereits eine Folge der „Verrechtlichung“ der Beziehung Ärztin/Patient war. Medizinisch sinnvolle, aber vielleicht nicht hundertprozentig sichere Behandlungen wurden, so schilderte sie es, nicht vorgenommen aus Angst vor Schadensersatzansprüchen. Und heute würde eben mehr und mehr die „ökonomische Indikation“ Oberhand gewinnen, Behandlungen also danach angeordnet, ob man damit Gewinn machen kann, ob sie sich „rechnen“ oder nicht.
Aus diesen Gründen ist die medizinische Versorgung der Menschen sehr viel teurer und sehr viel schlechter als sie aufgrund der vorhandenen Ressourcen sein müsste. Was aber wäre die Lösung?
Ganz sicher keine Lösung ist es, darauf zu setzen, dass sich die Beteiligten aufgrund ihrer „Moral“ (oder ihres ärztlichen Ethos) gegen die Rahmenbedingungen stellen, dass sie also für die „gute Sache“ das medizinisch Richtige tun, auch auf die Gefahr hin, Ärger mit der Krankenhausleitung bekommen oder weniger zu Geld verdienen.
Ich will gar nicht ausschließen, dass es solche moralisch handelnden Ärztinnen oder Krankenpfleger gibt, wahrscheinlich sogar mehr als wir glauben. Dass unser in sich komplett unsinniges „Gesundheitssystem“ noch nicht zusammengekracht ist, liegt vermutlich genau daran: dass sehr viele dort Beschäftigte sich gerade nicht seiner Logik unterwerfen, sondern in der Tat andere – moralische – Maßstäbe anlegen.
Es war ja von Anfang an das Prinzip des Kapitalismus, darauf zu bauen, dass die Hälfte der Menschen (historisch: die Frauen) sich gerade nicht kapitalistisch verhalten, sondern „selbstlos“ für andere (Mann und Kinder) sorgen – nachzulesen ist das schon in Hegels Rechtsphilosophie und feministisch analysiert dann von Carol Pateman in ihrer Studie „Der Geschlechtervertrag“.
Der Geschlechtervertrag ist inzwischen von Seiten der Frauen aufgekündigt worden. Deshalb ist es heute notwendig, strukturell andere Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen die Fürsorgearbeit sichergestellt ist, ohne auf die Gratisarbeit von „selbstlosen“ Ehefrauen und Müttern zu spekulieren. Und analog wäre es auch notwendig, das Gesundheitssystem neu zu organisieren, sodass seine Rahmenbedingungen den Erfordernissen dessen, worum es dort geht, angemessen sind und sich nicht auf die „Selbstlosigkeit“ des medizinischen Personals verlassen.
Meine These ist Folgende: Die „Verbetriebswirtschaftlichung“ von gesellschaftlichen Beziehungen und Arbeitsbereichen hat überall da nicht funktioniert (oder nur mit sehr, sehr negativen Begleiterscheinungen), wo es sich im Kern um Beziehungen der Ungleichheit handelt. Neben der Familie (Beziehung Erwachsene – Kinder) und der Medizin (Beziehung Arzt – Patient) ist das vor allem auch die Bildung (Beziehung Lehrer/Professorin – Schüler/Studentin).
Der „Markt“ geht nämlich grundsätzlich davon aus, dass die Beziehungen, die hier zu ordnen sind, Beziehungen unter Gleichen sind. Deshalb greift hier auch das Ordnungssystem „gleiche Rechte“ oder Berechnungen wie „Betriebswirtschaft“ – oder es würde zumindest greifen, wenn es denn wirklich angewendet würde. Ein leistungsunabhängiges Grundeinkommen wäre zum Beispiel eine Möglichkeit, mehr „Gleichheit“ in den Zugangsbedingungen zum Markt herzustellen.
Bei Beziehungen der Ungleichheit funktioniert dieser ganze Denkansatz aber schon von der Struktur her nicht: Ärztin und Patientin, Mutter und Kind, Professor und Student sind nicht nur faktisch (also quasi zufällig) ungleich, wie es bei zwei „Marktteilnehmern“ der Fall ist, sondern ihre Beziehung existiert überhaupt nur auf der Grundlage ihrer Ungleichheit. Professorin, Arzt, Mutter wird man nur, weil man im Vergleich zum Gegenüber – Student, Patientin, Kind – ein „Mehr“ hat, weil man mehr weiß, mehr kann.
Es ist deshalb prinzipiell Quatsch, ihr Verhältnis als das einer „Dienstleistung“ (also unter Marktlogik) zu beschreiben, und es ist deshalb auch prinzipiell Quatsch, die auf Märkten sinnvollen Regularien (Betriebswirtschaft) auf diese Beziehungen anzuwenden.
Augenfällige Beispiele sind etwa die ganzen von den Krankenkassen nicht bezahlten ärztlichen Zusatzleistungen: Wie soll eine Patientin beurteilen, welche davon sinnvoll sind oder nicht? Wenn sie der Ärztin nicht glauben kann, weil diese ein ökonomisches Interesse hat? Entweder hat sie genug Geld, einfach alles „einzukaufen“, oder sie ist gebildet genug, ihr vermutlich knappes Budget möglichst effektiv einzusetzen. Verloren haben diejenigen, die wenig Geld und wenig Bildung haben, denn sie werden ihr ohnehin geringes persönliches „Gesundheitsbudget“ am ehesten für unsinnige Untersuchungen verschwenden. Die Verbetriebswirtschaftlichung beschädigt hier ganz direkt das Autoritäts- und Vertrauensverhältnis.
Auch Beurteilungen der „Dienstleistungsqualität“ (im Sinne von: Patientinnen bewerten ihre Ärzte, Studenten ihre Profs) sind zwiespältig. Sicher kann man einiges daraus erfahren, aber die Gefahr ist groß, dass öfter mal schlechte Noten gegeben werden, weil das Urteil der jeweiligen Autoritätsperson nicht gefällt. Also wenn die Professorin für eine schlechte Arbeit eben auch eine schlechte Note erteilt – aber genau dies ist nun mal ihr Job. Autoritätsbeziehungen sind gerade davon gekennzeichnet, dass man auf das Urteil einer anderen Person, die „mehr“ weiß, vertraut. Und zwar gerade auch dann, wenn es einem nicht gefällt.
Das alte Ordnungsprinzip solcher Beziehungen der Ungleichheit war patriarchal: Der Vater als strukturierendes „Oberhaupt“ der Familie, der Arzt als „Halbgott in Weiß“, der Professor als Hüter des kodifizierten Wissens. Dieses Ordnungsprinzip gilt heute zum Glück nicht mehr. Aber damit ist das Problem eben – wie beim Ende des Patriarchats generell – leider nicht gelöst, sondern die Schwierigkeiten, die Unordnung, das Kuddelmuddel treten erst umso deutlicher hervor.
Luisa Muraro hat einmal gesagt, die Probleme der Zukunft werden nicht von denen gelöst, die die schönsten Gleichheitskonzepte haben, sondern von denen, die Wege finden, wie man mit der Ungleichheit umgehen kann. Und sie hat Recht. Wie organisieren wir Beziehungen zwischen Ungleichen, die für unser Überleben notwendig sind, so, dass niemand zu Schaden kommt?

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