Gestern spülte mir das Internet wieder mal einen dieser kulturpessimistischen Zeitungsartikel auf den Bildschirm, in denen jemand über den Verfall der Sitten lamentiert, über das Internet, das uns alle ausspioniert, darüber, dass wir alle sowieso Idioten sind, weil wir die Welt nicht genauso düster sehen, wie er, über die Tugendwächter überall, die Gutmenschen, die alles, was ihnen nicht passt, zum Skandal machen, darüber, dass man das N-Wort nicht mehr sagen darf und nirgendwo mehr rauchen, darüber, dass es im Zeitalter von Social Media praktisch unmöglich geworden ist, die jugendliche Geliebte vor der Öffentlichkeit zu verstecken, was es leider etwas mühselig macht, anderen Moral zu predigen.
Ja, man hat es schwer heutzutage. Ich twitterte dann:
Leute, die einfach nur die Welt anprangern, wie sie ist, ohne den klitzekleinsten Vorschlag, was man nun tun soll. Wozu machen die das?
Und:
Wahrscheinlich zum Geld verdienen. Oder um sich wichtig zu tun. Ich glaube nicht, dass sie sich wirklich Sorgen machen.
Lustigerweise werden mir meine eigenen Gedanken oft erst beim Twittern klar. Der Impuls, etwas zu twittern, zeigt mir, dass da für mich ein Thema drinsteckt, eine Spur, die es sich vielleicht zu verfolgen lohnt. Und das wird mir meist erst hinterher klar: Wenn ich meine Tweets nochmal lese, erfahre ich oft etwas über meine eigenen Ansichten.
In dem Fall merkte ich, dass mir gar nicht so sehr der kulturpessimistische Inhalt dieses Artikels auf die Nerven gegangen war – wie bei jeder Polemik enthielt auch dieser durchaus das ein oder andere Körnchen Wahrheit. Mich störte vielmehr die Tatsache, dass in diesem ganzen sehr sehr sehr langen Text nicht auch nur der Hauch eines Ansatzes eines Vorschlags gemacht wurde, was wir denn nun angesichts dieser an die Wand gemalten Katastrophe eventuell tun könnten.
Noch klarer wurde mir mein Unbehagen, als dann @oliverherold zurück twitterte:
Ich sehe auch oft Probleme, die ich nicht lösen kann, deswegen bin ich nicht minder besorgt.
Und damit hat er natürlich sehr Recht. Mir wurde durch den Einwand klar, dass es gar nicht Lösungen sind, die ich mir wünsche. Die Probleme, mit denen wir es auf der politischen Ebene zu tun haben, zeichnen sich ja insgesamt dadurch aus, dass es für sie keine Lösungen gibt, nehmen wir die Eurokrise, oder auch die Umweltkatastrophe oder die Unvereinbarkeit von Beruf und Familie oder oder oder.
Ich glaube, es gibt einen bestimmten Männertypus, der die eigene Männlichkeit darüber identifiziert, immer alles „fixen“ zu können – ein Problem, über das ich schon mal am Beispiel von MarkTomJack gebloggt habe. Und dieser Typ Mann empfindet es wohl als echte Kränkung, wenn da ein Problem ist, das man nicht „lösen“ kann. Zu diesem Typus gehören sowohl die alten Staatspapas, die uns früher nach Marke Adenauer regiert haben, als auch die klassischen Revoluzzer, die immer einen zehn-Punkte-Plan für den nächsten Umsturz in der Schublade haben, und die der festen Überzeugung sind, dass die Welt bisher nur deshalb noch nicht gerettet ist, weil das reaktionäre System sie nicht ans Ruder lässt.
Dieser Typus ist heute zum Glück in die Defensive geraten, wer behauptet, die Lösung zu wissen, wirkt ja eher lächerlich (leider nicht auf alle). Und vielleicht sind perspektivlos dahermosernde Kulturpessimisten ja eine Folge dieser Entwicklung. So nach dem Motto: Wenn wir schon keine Pauschallösungen mehr verkaufen dürfen, dann gibt es von uns eben nur noch Rumgemosere und keine konstruktiven Vorschläge mehr.
Einen Missstand, ein Problem zu sehen und es zu formulieren, vor unguten Entwicklungen zu warnen, gehört natürlich zum Kerngeschäft der Politik. Aber das genügt halt nicht. Probleme gibt es überall, und der übliche Schlagabtausch von „Das (zum Beispiel das Internet) ist gut!“ versus „Das ist schlecht!“ bringt überhaupt nicht weiter.
Zu einer wirklichen politischen Debatte gehört es auch, Ideen, Praktiken, Vorschläge zu formulieren, was man angesichts der so dargelegten Situation nun vielleicht tun könnte oder sollte: Wo sind die Ansatzpunkte, von denen aus man etwas positiv beeinflussen kann? Wo gibt es bereits Menschen, die etwas Entsprechendes versuchen und denen man sich anschließen oder die man unterstützen kann? Wer profitiert von diesem Missstand und wie könnte man ihm oder ihr Grenzen setzen? Am allerbesten ist es, wenn solche Vorschläge nicht nur theoretisch deduziert werden, sondern auf eigener Erfahrung beruhen, wenn man also bereits selbst mit einer bestimmten Praxis experimentiert hat und die entsprechenden Ergebnisse mit anderen teilt.
Solche Vorschläge vorzubringen und zur Diskussion zu stellen ist meiner Ansicht nach die Kernaufgabe der „Intellektuellen“ und jedes politischen Menschen generell. Wer die Wirklichkeit einfach nur anprangert ohne eine solche weitere Reflektionsstufe, bewegt sich auf dem Niveau eines trotzigen Kindes, das sagt: „Ich will aber nicht, dass es regnet.“ Das ist für die politische Debatte ebenso schädlich wie die andere Seite, die behauptet, die alleinseligmachende Lösung für das Regenproblem zu haben. Denn beides öffnet nicht den politischen Raum, sondern schließt ihn zu.
Meine Güte, es regnet halt nun mal. Politik bedeutet, darüber zu streiten, ob es angesichts dieser Tatsache besser ist, zuhause zu bleiben, nass zu werden, den Regenschirm einzupacken, öffentliche Plätze zu überdachen und so weiter. Nichts davon ist die eine definitive Lösung. Aber alles davon ist eine Möglichkeit, mit der Tatsache, dass es regnet, zurecht zu kommen und etwas draus zu machen.

Was meinst du?