Romeo und Julia: Die Erregung des Verbotenen

„Die Liebe als Überschreitung, außerhalb des Gesetzes, als geächtet: Diese allgemeine Idee überwiegt im gängigen Bewußtsein wie in den literarischen Texten“, schreibt Julia Kristeva in ihren „Geschichten von der Liebe“ (201) über den westlichen Liebesdiskurs, und natürlich nimmt sie als Beispiel die wohl bekannteste Geschichte von „verbotener Liebe“: Romeo und Julia.

Hunderte, Tausende und Abertausende von (ausschließlich heterosexuellen?) Paaren haben sich in Verona an den Wänden des angeblichen Wohnhauses der Julia verewigt und tun das auch weiterhin, in wer weiß wie vielen Schichten übereinander. Das Gewusel ihrer durch Herzen umrahmten Namen ist eine rührende Widerlegung der angeblichen „Einzigartigkeit“ jeder dieser Hoffnungen, ihre Liebesbeziehung bis zum bitteren Ende und gegen jede äußere Norm antrotzen zu lassen.

Die sehnsuchtsvolle Bezugnahme heutiger Paare auf Romeo und Julia ist ja durchaus erstaunlich, denn, wie Kristeva bemerkt: „Die Geschichte des berühmten Paars ist im Grunde eine Geschichte des unmöglichen Paars: Sie lieben sich weniger lang, als sie sich auf das Sterben vorbereiten.“ (202)

In einer oberflächlichen Betrachtungsweise könnte man meinen, mit dieser Geschichte feiert der Westen die humanistische Befreiung der Liebe aus den Zwängen der gesellschaftlichen Normen und der arrangierten Ehen, allerdings lässt die Obsession, mit der die Leidenschaft von Romeo und Julia zur Blaupause für wahre, bedingungslose Liebe und Hingabe ist, Zweifel aufkommen: Ist es wirklich die Freude darüber, dass wir heute diese Zwänge weitgehend überwunden haben, die sich in der anhaltenden Faszination für die Geschichte zeigt?

Oder ist es nicht vielmehr ein Anzeichen für eine Sehnsucht, die daher rührt, dass sich unsere Bilder von romantischer Liebe mit deren Verbot quasi untrennbar vermischt haben? Julia Kristeva fragt ganz richtig im Bezug auf das berühmte Role-Model-Paar: „Entspringt ihre Lust der Erfülltheit des Zusammenseins oder der Angst vor der Rüge? (203)

Sie nennt das den „Schatten des Dritten: Eltern, Vater, Gatte oder Gattin beim Ehebruch, ist in derartigen Erregungen der Fleischeslust vermutlich stärker anwesend, als die unschuldigen Sucher nach einem Glück zu zweit zugeben. Man entferne diesen Dritten, und schon stürzt, oft genug, das Gebäude ein, weil dem Begehren nun letzter Grund und Ursache fehlen.“

Ich zum Beispiel habe nie verstanden, was Leute an Sex auf dem Küchentisch oder auf dem Flugzeugklo finden, ich finde es immer im Bett eigentlich schöner. Es ist genussvoller, einfacher und weniger unbequem.

Aber vielleicht passt „einfach, gemütlich, ungefährlich“ mit dem Bild, das wir von der romantischen Liebe haben, nicht zusammen. So richtig romantisch ist es erst, wenn man Angst haben muss, entdeckt zu werden, die Erregung speist sich aus dem Gefühl, etwas „Verbotenes“ zu tun.

Konservative Milieus – zum Beispiel bestimmte fundamentalistisch-religiöse Gruppen – nehmen das tatsächlich als Argument: Wenn alles erlaubt ist und wir jederzeit mit jedem Menschen Sex haben könnten, mit dem uns das in den Sinn kommt, so behaupten sie, ist doch kein Reiz mehr dabei. Sie geben dabei vor, sittliche Rahmenbedingungen für „erlaubten“ Sex vorgeben zu wollen, vielleicht aber hat ihr Erfolg bei nicht wenigen jungen Leuten auch einfach nur den Grund, dass sie bereitwillig diese Rolle des „Dritten“ übernehmen, also den Rahmen von Verboten bereitstellen, der notwendig ist für ein Begehren, das sich nicht einfach am Genuss des gemeinsamen Verliebtseins erfreut, sondern sich daraus speist, gemeinsam und heimlich und wagemutig gegen ein Gesetz zu verstoßen.

Freie Liebe, so meine These, haben wir aber nicht dann verwirklicht, wenn wir den Mut haben, gegen Liebesnormen und Liebesgesetze zu verstoßen, sondern dann, wenn wir diesen Verstoß nicht mehr nötig haben, um zu begehren und zu genießen.

Freie Liebende, so glaube ich, würden unter dem Balkon der Julia keine Herzen malen und ihre eigenen Namen hineinstellen, sondern sie würden dort Kerzen anzünden, als Zeichen der Trauer und des Mitgefühls. Sie würden nicht sehnsuchtsvoll sich wünschen, genauso zu lieben wie Romeo und Julia, sondern sie wären dankbar dafür, dass sie anders lieben können: Ohne Heimlichtuereien, ohne Angst vor Entdeckung, ohne Verbote.

Voraussetzung dafür wäre natürlich, dass sie sich tatsächlich lieben. Und keinen „Dritten“ brauchen, dessen Gesetz ihre Liebe verbietet und ihr dadurch Reiz verleiht.

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

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