Betrauerbare und Unbetrauerbare – Judith Butlers Rede zum Adornopreis

Gerade habe ich mal kurz interessehalber die News durchgeklickt, um zu sehen, was die etablierten Medien so über die Veranstaltung gestern in der Pauslkirche zur Übergabe des Adornopreises an Judith Butler schreiben – und obwohl es natürlich eigentlich nicht wirklich überraschend ist, bin ich dann immer wieder doch überrascht über die Flachheit der Berichterstattung. Nicht nur, dass überall dasselbe drinsteht, es steht auch nirgendwo (zumindest habe ich nix gefunden, Gegenteiliges gerne in die Kommentare) etwas Inhaltliches darüber drin, was Judith Butler in ihrer Preisrede eigentlich gesagt hat.

Im Prinzip zeigt sich darin auch ein Verfall der alten Institutionen, denn solche Preise sind doch – sollte man meinen – eigentlich dafür da, dem Denken einer Person besondere Aufmerksamkeit zuzuführen. Scheint aber nicht so zu funktionieren.

Naja, ich schreibe hier deshalb mal auf, was mir von ihrer Rede in Erinnerung geblieben ist. Schon die Themenwahl war ziemlich genial, denn sie sprach über das „gute Leben im Falschen“, natürlich eine Anspielung auf Adornos Diktum, ein wahres Leben im Falschen könne es nicht geben.

Ja und nein, so Butlers Antwort. Bevor man sich die Frage stellen könne, wie ein „gutes Leben“ zu führen sei, müssten zwei Prämissen erfüllt sein: Erstens müsse man fragen, inwiefern man das eigene Leben überhaupt „führt“ (oder nicht vielmehr „geführt wird“ durch äußere Prägungen und Strukturen), und zweitens ist die Frage, ob man überhaupt ein „Leben“ hat, das zu führen wäre.

Der erste Punkt ist natürlich klar, es ist der Hinweis darauf, dass das Subjekt niemals über den Dingen schwebt, sondern in die Umstände, unter denen es lebt, involviert, auf gewisse Weise positioniert ist. Trotzdem ist freies Handeln möglich, aber eben nicht „frei“im Sinne von unbeeinflusst.

Den zweiten Punkt habe ich nicht so ganz nachvollziehen können. Butler hat hier unterschieden zwischen den „Betrauerbaren“ und den „Unbetrauerbaren“, denjenigen also, denen (von wem? Der Gesellschaft? Dem Staat? Den Strukturen?) ein Wert zugemessen wird, deren Tod also gegebenenfalls „betrauert“ würde und den man daher versucht, zu verhindern, und den anderen, denen kein Wert zugemessen wird, die schon abgeschrieben sind, die keinen Anspruch auf Unterstützung und Hilfe haben, und die daher „unbetrauerbar“ sind.

Ich verstehe natürlich, dass Butler hier eine bestimmte gesellschaftliche Haltung kritisiert, die sich in Gleichgültigkeit vieler Privilegierter gegenüber Unterdrückung, Prekarisierung, Hungersnöten und so weiter ausdrückt. – so etwas Ähnliches haben wir im „ABC des guten Lebens“ unter dem Stichwort „WürdeträgerIn“ zu sagen versucht.

Und richtig, dass das in moralphilosophischen Diskursen explizit zum Thema gemacht und berücksichtigt werden muss. Aber ich verstehe die Wortwahl „Unbetrauerbare“ nicht, denn das stimmt ja nur aus der Perspektive der Ignoranten, Privilegierten. Von ihren Freund_innen, Familien, Beziehungsnetzen werden ja auch die „Prekarisierten“ im Fall ihres Todes „betrauert“, und Butler selbst hat das sogar gesagt und darauf hingewiesen, dass in vielen Ländern Beerdigungen oft von Demonstrationen gar nicht unterscheidbar seien. Also sind diese Menschen doch objektiv „betrauerbar“, oder?

Wie auch immer, ganz richtig ist natürlich Butlers Hinweis, dass ich nicht selbst darüber entscheiden kann, ob mein Leben einen Wert hat, sondern dass ich darauf angewiesen bin, dass meinem Leben von anderen Wert zugemessen wird. Die Frage ist eben nur, wer diese „anderen“ sind, darauf ist Judith Butler nicht eingegangen.

Dass dieser Wert sich konkret auch auf das körperliche Leben bezieht, war ein anderer wichtiger Punkt. Wie schon viele Feministinnen vor ihr setzte sich Butler an diesem Punkt noch einmal kritisch mit Hannah Arendts Unterscheidung zwischen privat und öffentlich, zwischen Arbeiten und Handeln auseinander und betonte, dass die Sorge um den Körper und sein Überleben nicht jenseits des Politischen stünde, und dass Moral untrennbar mit Biopolitik verknüpft ist.

Butler meint auch, dass körperliche „Performance“ unabdingbar zu politischem Engagement dazu gehört. Ich würde das spontan auch so teilen (passt auch ein bisschen zu meinem letzten Post), Handeln vollzieht sich nicht nur im Sprechen (zum Beispiel Bloggen), sondern auch in körperlichen Aktionen, darin, dass man sich an bestimmte Orte begibt und an andere nicht, in die Gesellschaft bestimmter Menschen und anderer nicht.

Darüber entwickelte sich ein Mini-Dialog auf Twitter zwischen @PhaidrosDA und mir, der meinte, es gebe auch digitale Protest- und Widerstandsformen. Ich glaube ja, dass die körperliche Aktionen immer nur begleiten und nicht an ihre Stelle treten können (wobei man ja außerdem auch einen Körper braucht, um am Computer zu sitzen und zu tippen).

Also Butlers Appell war: „Wir können nicht für gutes Leben kämpfen, ohne das Überleben der Körper zu sichern. Aber Leben ist trotzdem mehr als Überleben.“ Außerdem an die Adresse der sozialen Bewegungen gerichtet: „Soziale Bewegungen müssen die von ihr angestrebten Prinzipien selbst schon praktizieren.“ Genau so ist es natürlich.

Ein bisschen innerlich schmunzeln musste ich dann aber doch noch über ihr Fazit, die moralphilosophische und politische Herausforderung liege darin, die Interdependenz der Menschen nicht überwinden zu wollen, sondern sie lebbar zu gestalten. Das Thema Abhängigkeit (und dass man sie prinzipiell nicht überwinden, sondern nur gestalten kann) scheint wirklich in der Luft zu liegen.

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

40 Gedanken zu “Betrauerbare und Unbetrauerbare – Judith Butlers Rede zum Adornopreis

  1. „Wie auch immer, ganz richtig ist natürlich Butlers Hinweis, dass ich nicht selbst darüber entscheiden kann, ob mein Leben einen Wert hat, sondern dass ich darauf angewiesen bin, dass meinem Leben von anderen Wert zugemessen wird. Die Frage ist eben nur, wer diese “anderen” sind, darauf ist Judith Butler nicht eingegangen.“

    Ich denke, Butler bezieht sich vielleicht auf eine gesamtgesellschaftliche Anerkennung „betrauerbaren Lebens“, zum Beispiel durch internationale Medien und Politiker. Es macht eben leider einen Unterschied, ob Menschen in den westlichen Ländern sterben, oder solche des globalen Südens. So als Beispiel: die Diskrepanz zwischen der Berichterstattung über die Costa Concordia und dem, was über die tagtäglichen Tode von Flüchtlingen im Mittelmeerraum (nicht) berichtet wird.

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  2. Das Thema Abhängigkeit(en) hat mich erst mal unabhängig von Butler auch am Wochenende bewegt, danke also für die inhaltliche Zusammenfassung. Ich war auf dem Geburtstagskongress der Zeitschrift „graswurzelrevolution“ und in einem der Workshops ging es auch darum, wie die „angestrebten Prinzipien“ in diesem Fall libertäre, gewaltfreie Ideen schon jetzt gelebt werden können. Eine Möglichkeit sehe ich in der Gründung politischer Kommen (Lebensgemeinschaften), in den u.a. Zeit und Geld geteilt wird. Ich selbst lebe seit einigen Jahren so. In der Disskusion war ein wichtiges Argument, dass ein solches Leben, indem Mensch sich mit den Mitkommunnard_innen absprechen muss nicht frei sei kann. Ich argumentierte, dass es ja absolute Freiheit im Sinne von Unabhängigkeit nicht gebe. Um es mit deinen Worten zu benennen: Abhängigkeiten können nur gestaltet werden. Da finde ich es doch besser mit „meinen Leuten“ zu diskutieren als mit (profitorientierten) ArbeitgeberInnen oder Ämtern. Spannend bleibt allerdings, wie eine sinnvolle Gestaltung aussehen könnte innerhalb der herrschenden Strukturen (auch der eigenen inneren). Und vor allem, dass es sich frei(er) anfühlt. Hier stoßen wir auch in der Gemeinschaft immer wieder an Grenzen. Weiter Austausch über Abhängigkeiten würde mich freuen.

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  3. „Nicht nur, dass überall dasselbe drinsteht, es steht auch nirgendwo (zumindest habe ich nix gefunden, Gegenteiliges gerne in die Kommentare) etwas Inhaltliches darüber drin, was Judith Butler in ihrer Preisrede eigentlich gesagt hat.“

    Die Rede wurde gestern gehalten. Auch wenn die „etablierten Medien“ eine Vorabversion gehabt haben könnten ist es im Feuilleton dieser Medien üblich, sich für eine inhaltliche Auseinandersetzung durchaus Zeit zu nehmen. Ich vermute, die wird kommen. Man kann m.E. nicht Tiefe und Schnelligkeit gleichzeitig haben.

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  4. @Jörg Friedrich – Wenn du was findest, sag bitte Bescheid. Ich glaube aber kaum, das Mediengeschäft ist doch sehr schnellebig und morgen ist dieser Preis nach dieser Logik doch schon wieder „Schnee von gestern“.

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  5. Die Preisverleihung fand ja am 11.9. statt: Gedenktag für die Opfer des Anschlags auf das World Trade Center. Vielleicht wollte Judith Butler mit dem Verweis auf betrauertes und unbetrauertes Leben auch sagen, dass den Menschen, die Opfer von Gewaltverbrechen innerhalb von Wohlstandsgesellschaften geworden sind, große (mediale) Anteilnahme und Aufmerksamkeit zukommt, was in dieser Weise für eine große Anzahl von Menschen, die Opfer von Repression/Kriegen/Armut geworden sind und werden, nicht gilt. Ich verstehe ihren Bezug auf Adornos Diktum dass es ‘kein richtiges Leben im falschen geben kann’, somit auch als An-klage an unsere sog. Wohlstandsgesellschaft und ihre Wirtschaftspraktiken, denen
    tagtäglich tausende Menschen zum Opfer fallen, die unbetrauert bleiben.

    Mich berührt die Eindringlichkeit und Anteilnahme, mit der Butler auf all das verachtete, nicht beachtete, nicht betrauerte Leben hinweist.
    Sehr schön, Antje, wie du den Appell von Judith Butler zusammenfasst:
    “Wir können nicht für gutes Leben kämpfen, ohne das Überleben der Körper zu sichern. Aber Leben ist trotzdem mehr als Überleben.” Außerdem an die Adresse der sozialen Bewegungen gerichtet: “Soziale Bewegungen müssen die von ihr angestrebten Prinzipien selbst schon praktizieren.”

    Was ich sehr richtig finde ist, dass J.Butler in ihrer Dankesrede der Denunziationskampagne gegenüber ihrer Person keinen Raum gegeben hat.
    Im Vorfeld der Preisverleihung hat sie sich, u.a. in der ZEIT dazu geäußert: ‘ Ich bin tief verletzt ‘ http://www.zeit.de/2012/36/Judith-Butler

    Und trotz dieser Verletztheit konnte Judith Butler sagen:
    Fangen wir an, miteinander zu sprechen
    [http://www.fr-online.de/kultur/judith-butler-fangen-wir-an–miteinander-zu-sprechen,1472786,17019694.html]

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  6. Ich kann leider auch keine zur Zustimmung einladende Interpretation anbieten, möchte aber darauf hinweisen, daß wir begrifflich und damit inhaltlich einen Unterschied zwischen „betrauerbar“ und „betrauernswert“ machen.

    Für mich spricht für die „Perspektive der Ignoranten, Privilegierten“ eher der präzisere Begriff der „(nicht) Betrauernswerten“, der Begriff der „Unbetrauerbaren“ ist weniger wertend aufgeladen; beispielsweise sind anonyme Tote (oder mit fehlenden Überresten) weniger betrauer-bar, nichtsdestotrotz nicht weniger betrauerns-wert.

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  7. Auch ich warte sehr gespannt auf den gestrigen Redetext von Judith Butler, nehme aber an, dass sie ihn selbst veröffentlichen wird. So lange können wir Nicht-Dort-Gewesenen nur aus zweiter Hand feststellen, dass es sehr klug von ihr war, auf diese unwürdige Schlammschlacht nicht einzugehen.
    Und diese war leider in den meisten Medien Hauptthema. Damit wurde vieles von dem erfüllt, was Judith Butler z.B. in „gefährdetes Leben“ so nachvollziehbar beschrieben hat.
    Heute Abend wird – leider wieder recht spät – in arte eine Sendung über Judith Butler zu sehen sein. Auch darauf bin ich gespannt, nur leider wird sie nicht von denjenigen gesehen werden, die die indifferenten verletzenden Schlag-Worte in die Macht des Populismus gestreut haben.

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  8. Ich glaube nicht, dass Butler mit der Unterscheidung in Betrauerte und Unbetrauerte etwas Konkretes meinte, ich glaube eher, dass sie damit eine Denkfigur auf abstrakter Ebene ausmacht, die sich eben leicht in Gruppenidentitäten einscheicht.

    Hier sind die, die nach meiner Vorstellung richtig leben – wenn deren Schicksal eine negative Wendung nimmt, dann ist das die Folge einer Ungerechtigkeit, eines Übels usw. usf.
    Dort sind die, die nicht richtig leben – wie soll man das Mißgeschick von Leuten betrauern, die selbst schuld sind, die schlimmen Folgen ihrer bösen Taten ernten usw. usf.

    @AntjeSchrupp:
    Ich glaube daher, dass Deine Frage, wenn meint sie nur – Staat, Gesellschaft, sonstwen – eventuell in die Irre führt. Sie meint wohl einfach Dich und mich.

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  9. Übrigens finde ich es spannend, zu sehen, dass selbst bei Menschen, die sich mit ihrem Atheismus in der Tradition des Christentums sehen, das Bewußtsein der eigenen „Sündigkeit“ und „Gnadebedürftigkeit“ ( so ging das doch, richtig ?) mittlerweile derart abhanden gekommen ist, dass man sich noch nicht einmal versuchsweise als Adressaten kritischer Bemerkungen sehen kann – jetzt unabhängig davon, ob ich mit meiner Interpretation richtig liege.

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  10. Ich habe auch versucht, die Rede im Internet zu finden, habe sie aber noch nicht gefunden.

    Hier ist ein weiterer Text, in welchem sich Judith Butler gegen die Vorwürfe verteidigt: „Wir maskieren die Realität“. Der Text ist deutlich besser und differenzierter als der, der in der ZEIT erschienen ist. Butler hat jetzt deutlich mehr zu bieten als „natürlich bin ich gegen Gewalt“. Die Frage, die sich mir stellt, ist: warum nicht gleich so? Und warum hat sie selbst keine Definition von „links“?

    Was ist betrauerbares Leben? Mir ging es gerade umgekehrt: mir fiel es schwer, die Opfer des 11. September zu betrauern. Ich hatte mehr Mitgefühl mit armen Menschen als mit solchen, die Jobs im WTC haben oder die das Geld haben, das WTC im Rahmen eines Urlaubs zu besteigen. Ich brauchte eine Weile, bis ich verstand, dass auch diese Menschen betrauert werden müssen – sie sind nicht deswegen schon im Unrecht, weil sie kapitalistischen, reichen Staaten angehören, und die Attentäter sind nicht deswegen im Recht, weil sie aus armen Ländern kommen. (Ich gestehe: mir ist meine damalige Haltung mittlerweile eher peinlich.)

    Den zweiten Punkt habe ich nicht so ganz nachvollziehen können. Butler hat hier unterschieden zwischen den “Betrauerbaren” und den “Unbetrauerbaren”, denjenigen also, denen (von wem? Der Gesellschaft? Dem Staat? Den Strukturen?) ein Wert zugemessen wird, deren Tod also gegebenenfalls “betrauert” würde und den man daher versucht, zu verhindern, und den anderen, denen kein Wert zugemessen wird, die schon abgeschrieben sind, die keinen Anspruch auf Unterstützung und Hilfe haben, und die daher “unbetrauerbar” sind.

    ….

    Und richtig, dass das in moralphilosophischen Diskursen explizit zum Thema gemacht und berücksichtigt werden muss. Aber ich verstehe die Wortwahl “Unbetrauerbare” nicht, denn das stimmt ja nur aus der Perspektive der Ignoranten, Privilegierten. Von ihren Freund_innen, Familien, Beziehungsnetzen werden ja auch die “Prekarisierten” im Fall ihres Todes “betrauert”, und Butler selbst hat das sogar gesagt und darauf hingewiesen, dass in vielen Ländern Beerdigungen oft von Demonstrationen gar nicht unterscheidbar seien. Also sind diese Menschen doch objektiv “betrauerbar”, oder?

    Ich habe vor ein paar Jahren „Raster des Krieges“ gelesen, weil ich dachte, ich müsste auch mal etwas von Judith Butler probieren, aber mich aus irgendeinem Grund nicht an „Gender Trouble“ ranwagen wollte. Mir gefiel auch, was auf der Rückseite des Buchs stand. Das Buch war in Butlers bekannt schwierigem Stil geschrieben (vielleicht ist er für mich auch nur deswegen schwer, weil mir die theoretischen Voraussetungen fehlten), aber irgendwie schaffte ich es, den Text zumindest halb zu verstehen… Allerdings fand ich die Hälfte, die ich verstand, sehr langweilig, und ich hatte auch das Gefühl, dass ich als Nicht-Amerikanerin nicht zu dem „Wir“ gehöre, das Judith Butler anspricht. Die Grenze zwischen Betrauerbaren und nicht Betrauerbaren, oder aber zwischen den Trauernden und denen, die betrauert werden oder auch nicht, ist nämlich nicht nur die zwischen Privilegierten und Unterprivilegierten, sondern eben häufig auch eine Grenze zwischen ethnischen oder nationalen Gruppen. Ich hatte das Gefühl, sie spricht in erster Linie zu ihren Landsleuten, und als jemand, die das Leiden der Menschen im Irak oder auch in Afghanistan schon immer in ihre Überlegungen miteinbezogen hat, wenn es um die Frage ging, ob man diese Länder angreift, fühlte ich mich einfach nicht angesprochen.

    (Ich habe jetzt „Gender Trouble“ gelesen, und auch dieses Mal nur ungefähr die Hälfte verstanden, aber dieses Mal war die Hälfte, die ich verstanden habe, interessant. Ich kann noch nicht sagen, wo und wie ich ihr zustimme, aber langweilig und banal war sie nicht.) .

    Vermutlich wird es denen, die Beerdigungen zu Demonstrationen umgestalten, in noch stärkerem Maße so gehen, dass sie denken: „ah, ja, Menschen in Amerika muss man wohl erklären, dass wir auch betrauert werden sollten“, aber sie werden sich nicht angesprochen fühlen. (Und dabei geht es gewiss den meisten Menschen so, dass sie bestimmte andere Menschen aus ihrer Trauer ausschließen.)

    Es gibt Extremsituationen, in denen Menschen wirklich nicht betrauert werden, und zwar (zumindest im Augenblich ihres Sterbens) nicht nur von den Privilegierten Ignoranten nicht, sondern von niemandem: Die Menschen um sie herum sehen, dass da jemand dem Tod entgegengeht, aber niemand steht dem Sterbenden bei, versucht ihm zu helfen oder ihn zu trösten, weil alle mit dem eigenen Überleben beschäftigt sind (und man kann ihnen noch nicht einmal einen Vorwurf machen), und wenn der Mensch tot ist, hinterlässt er keine Lücke. Ein Beispiel waren die Konzentrations- und Vernichtungslager während der NS-Zeit. Es war Teil der Tötungsmaschinerie, dass Menschen dort auseinandergerissen und vereinzelt wurden. Viele fanden sich in einer Situation wieder, in der sie sich nicht einmal mit den Menschen um sie herum verständigen konnten, weil sie deren Sprache nicht sprachen. Als der Krieg vorbei war und die Nazi-Herrschaft beendet, wurden sie betrauert, aber auch hier womöglich nicht alle. Manche hinterließen niemanden, der sich an sie erinnerte. Aber betrauerbar sind sie alle, auch wenn es vielleicht niemanden gab, der sie konkret betrauerte.

    Wie auch immer, ganz richtig ist natürlich Butlers Hinweis, dass ich nicht selbst darüber entscheiden kann, ob mein Leben einen Wert hat, sondern dass ich darauf angewiesen bin, dass meinem Leben von anderen Wert zugemessen wird. Die Frage ist eben nur, wer diese “anderen” sind, darauf ist Judith Butler nicht eingegangen.

    Irgendetwas ist schief an diesem Absatz, aber ich kann es noch nicht fassen. Ich kann diesen Absatz als Aufruf verstehen, jeden Menschen zu betrauern, falls er stirbt, und jedem Menschen Wert zuzumessen (und ihm zu helfen, dass er oder sie leben kann, was noch besser ist als um ihn trauern). Ich glaube, so meint Judith Butler diesen Abschnitt. Aber was ist, wenn es nicht geschieht? Wenn einem Menschen von anderen kein Wert zugemessen wird? Nicht nur von der Gesellschaft der Privilegierten nicht, sondern von niemandem, weil er aus diesen oder jenen Gründen aus dem Beziehungsnetz herausgefallen ist? Was dann? Hat sein Leben keinen Wert mehr, weil ihm von anderen kein Wert mehr zugemessen wird?

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  11. @Susanna – auf deine frage am Schluss, was mit Menschen ist, die niemand betrauert, würde ich antworten: genau deshalb muss es Gott geben. Gott betrauert jede_n Menschen, und über diesen „Umweg“ (also wenn man das glaubt) führt dass dann vielleicht eher auch dazu, dass Menschen ebenfalls jede_n betrauern.

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  12. @Antje Schrupp: danke für den Bericht und @Susanna14: danke für den taz-Link!

    Ehrlich gesagt, überzeugt ihr mich vor allem davon, dass ich mich mal langsam mit Butlers Thesen zu Tod und Trauer auseinandersetzen möchte. Spontan würde ich sagen, ich trauere nicht mehr um Kriegsopfer in Afghanistan oder die Ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer als um die Toten von 9/11. Dahinter steckt für mich eher die Außergewöhnlichkeit (das Schockierende) dieses Ereignisses, während der Tod im Mittelmeer Alltag ist und ich von Kriegen ohnehin kaum Gutes erwarte. Genauso spontan würde ich sagen, dass ich, vielleicht im Unterschied zu Butler, nicht noch im Umgang mit dem Tod Ausschlussmechanismen suchen würde, so wie im Umgang mit Lebenden. Ich würde vielleicht ein bisschen in Ihre Richtung, Antje Schrupp, gehen, und fragen, wer beeinflusst meine Betrauerbarkeit oder die anderer Menschen. Warum, mit welchen Motiven und (wohl vor allem psychischen) Erträgen tun das diese Leute jeweils? Besonders interessant finde ich diese Fragen mit der Überlegung im Hinterkopf, dass wohl die allermeisten Menschen wissen, dass ein gewaltsamer oder unnötiger Tod nicht sein darf und die vielleicht schärfste Ungerechtigkeit darstellt. Warum trauern die Menschen dann so wenig?

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  13. Zu finden in:
    http://www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/themen/164654/index.html

    „Kampf für soziale Veränderungen
    Die Frage nach dem „richtigen Leben“ hänge also mit der Möglichkeit zusammen, ein Leben überhaupt führen zu können, und das auch mit dem Gefühl, lebendig zu sein, führte Butler aus. Außerdem hänge das Leben des Einzelnen mit dem gesellschaftlichen Leben untrennbar zusammen, weil das Soziale und das Individuum sich wechselseitig hervorbrächten. Deshalb sollte der Einzelne gemeinsam mit anderen in einen Kampf für soziale Veränderungen eintreten. „Soll ich ein gutes Leben führen, dann wird es ein Leben gemeinsam mit anderen sein“, schloss die Preisträgerin.“

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  14. @susanna 14 –“ Aber was ist, wenn es nicht geschieht? Wenn einem Menschen von anderen kein Wert zugemessen wird? Nicht nur von der Gesellschaft der Privilegierten nicht, sondern von niemandem, weil er aus diesen oder jenen Gründen aus dem Beziehungsnetz herausgefallen ist? Was dann? Hat sein Leben keinen Wert mehr, weil ihm von anderen kein Wert mehr zugemessen wird?”

    Antje du erwiderst darauf: “…genau deshalb muss es Gott geben. Gott betrauert jede_n Menschen, und über diesen “Umweg” (also wenn man das glaubt) führt dass dann vielleicht eher auch dazu, dass Menschen ebenfalls jede_n betrauern.“

    Und was, wenn kein Gottesglaube da ist?

    Geschieht nicht bereits in diesem Moment, in dem wir über, uns unbekannte, Menschen sprechen, denen kein Wert zugemessen wird, etwas in und mit uns selbst?
    An was rührt dieses “etwas”? Und ist das, was da in uns angerührt wird, möglicherweise auch ein Zugang zu all dem Unbetrauerten?

    Bereits das Wissen um die unzähligen entwerteten, nicht betrauerten, Menschenleben lässt viele Empfindungen und Gedanken aufkommen.
    Ist daher all dieses Berührtsein, Mitleiden, Gefühle von Ohnmacht, Verzweiflung, Wut, Empörung…. dann nicht auch Ausdruck von Trauer? Trauer über all das unbetrauerte Leben? Diese, so verstandene Trauer ist nicht nur ein Gefühl, sondern auch Antrieb zum politischen Tun. Daher glaube ich auch (nicht nur mit Judith Butler), dass unser Tun mit dazu beiträgt, jedem Menschen Wert beizumessen.

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  15. @kimberra

    Genauso spontan würde ich sagen, dass ich, vielleicht im Unterschied zu Butler, nicht noch im Umgang mit dem Tod Ausschlussmechanismen suchen würde, so wie im Umgang mit Lebenden. Ich würde vielleicht ein bisschen in Ihre Richtung, Antje Schrupp, gehen, und fragen, wer beeinflusst meine Betrauerbarkeit oder die anderer Menschen.

    So wie ich es verstanden habe, unterscheidet sich deine Position nicht sehr von der von Judith Butler. Natürlich gibt es Ausschlussmechanismen im Umgang mit dem Tod, gerade im Krieg: fast immer werden nur die eigenen Landsleute betrauert, nicht einmal die Toten der Verbündeten. (Ich höre nur wenig im Radio über gefallene französische oder amerikanische oder britische oder holländische Soldaten. Und wenn Kämpfer der Gegenseite getötet werden, sind die meisten nicht traurig, sondern freuen sich, und gegnerische Zivilisten werden zu Kollateralschäden erklärt. Butler kritisiert dies und fragt sich, woher dies kommt, und ihre Antwort, so weit ich mich erinnere, ist die, dass es darauf ankommt, wie die Kriege „gerahmt“ werden. Mittlerweile habe ich die Definition dieses Wortes gelernt: es heißt, dass bestimmte Perspektiven und Interpretationen für ein Problem angeboten werden, und dass es in einen bestimmten Zusammenhang gestellt wird.

    Hier ist, was in dem Emma-Artikel zu „Raster des Krieges“ steht:

    Was aus der feministischen Theorie über die Fallen der Identitätspolitik zu lernen ist, überträgt Butler auch auf andere Felder. Ins Deutsche übersetzt sind „Frames of War“ (Raster des Krieges, 2009 – u.a. zu Afghanistan und Abu Ghraib) sowie „Precarious Life“ (Gefährdetes Leben, 2004): Der Aufsatzband hat Guantanamo, das Fehlen der Trauer in Amerika über die Kriegsopfer der Gegenseite sowie die Reaktion auf Israel-Kritik mit dem Antisemitismus-Vorwurf zum Thema.

    Nur ist dies völlig banal: es ist bekannt, dass in Kriegen jede Seite ihre Version der Geschichte erzählt (gerade beim Nahost-Konflikt wird dies deutlich), und Tote der Gegenseite werden halt nicht betrauert. (Dennoch wäre es natürlich gut, wenn es sich ändern würde.)

    Besonders interessant finde ich diese Fragen mit der Überlegung im Hinterkopf, dass wohl die allermeisten Menschen wissen, dass ein gewaltsamer oder unnötiger Tod nicht sein darf und die vielleicht schärfste Ungerechtigkeit darstellt. Warum trauern die Menschen dann so wenig?

    Ich habe während des Tages über diesen Satz nachgedacht, und überlege mir jetzt, ob Trauer wirklich das angemessene Gefühl ist, wenn es um Menschen geht, die wir nie gekannt haben. (Trauer um Promis, wie Prinzessin Diana, will ich mal außen vor lassen, da ich nicht weiß, wie ich das einordnen soll.) Wenn ich um Menschen trauere, die ich nie gekannt habe, ist das mit einer gewissen geistigen und emotionalen Anstrengung verbunden: ich stelle mir vor, wie es den Angehörigen gehen mag, oder auch den Menschen, die gestorben sind selbst .Wenn jemand wirklich jemanden verloren hat, ist der Trauerprozess nicht mit Anstrengung verloren, im Gegenteil, es ist anstrengend, sich wieder auf anderes zu konzentrieren.

    Vielleicht wäre ein anderes Gefühl angemessener: Empörung: (So verstehe ich auch Ute, wenn sie dazu aufruft, dass Trauer zu politischem Handeln antreibt.)

    Ich habe, wie gesagt, den Emma-Artikel gelesen. Ich habe auch den Artikel in der FAZ gelesen, den Jörg Friedrich verlinkt hat. Die Lektüre des Artikels von Gabriele Wolff, den Ute Plass verlinkt hat, habe ich nach kurzer Zeit abgebrochen, weil mir die Autorin biologistisch zu argumentieren schien. Was mich im Emma-Artikel und im FAZ Artikel etwas fassungslos zurückließ, war die Art, wie Judith Butler gegen die Vorwürfe des Antisemitismus in Schutz genommen wird. Man bekommt den Eindruck, Judith Butler hätte vor einem „Präventivschlag“ gegen den Iran gewarnt, oder gegen die Mauer protestiert, für die palästinensisches Land konfisziert wurde. Es wird so getan, als sei die Kritik, die gegen Judith Butler gerichtet ist, die selbe Art von Kritik, die alle trifft, die sich „nicht bedingungslos hinter Israel stellen“ (FAZ-Artikel), wobei mal wieder unklar ist, ob damit irgendeine spezifische israelische Politik einer bestimmten Regierung gemeint ist, oder Israel an und für sich. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Vorwürfen findet nicht statt; die einzige Ausnahme sind Judith Butlers eigene Texte zu ihrer Verteidigung.

    Auch der taz-Artikel ist meiner Meinung nach problematisch. Judith Butler tut so, als wäre es darum gegangen, die Definition von „links“ zu hinterfragen. Es ist jedoch noch ein anderes Adjektiv gefallen, nämlich „progressiv“, was wahrscheinlich leichter zu definieren ist als „links“, und auf Hamas oder Hisbolla hat es nocht nie gepasst.

    Vielleicht ist Micha Brumliks Position die ausgewogenste: Seiner Meinung nach hat Judith Butler den Preis wegen ihrer eigentlichen Hauptwerkfe verdient, und dass sie zum Thema Hamas und Hisbollah Unsinn geredet hat, ändert nichts daran: die Philosophin im Brunnen.

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  16. „Nicht die Person Judith Butler ist skandalös, sondern der Streit, der über sie entstanden ist. Das Antisemitismus-Argument ist eine Nebelbombe, die verhindern soll, dass man über die Probleme redet, die Butler anspricht. (…) Diese Philosophin versteht es, in einer Welt der Kriege und Eskalationen eine neue Sprache der Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erfinden und mit ihr zugleich eine Praxis verantwortlicher Zuwendung und Empathie.“

    zitiert aus:

    Akademisch gut, politisch dumm
    [http://www.fr-online.de/meinung/auslese-zu-judith-butler-akademisch-gut–politisch-dumm,1472602,17244938.html]

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  17. @kimberra – „Besonders interessant finde ich diese Fragen mit der Überlegung im Hinterkopf, dass wohl die allermeisten Menschen wissen, dass ein gewaltsamer oder unnötiger Tod nicht sein darf und die vielleicht schärfste Ungerechtigkeit darstellt. Warum trauern die Menschen dann so wenig?“

    Vielleicht auch aus Gründen der Scham und Schuldabwehr?
    Siehe Mitscherlichs „Die Unfähigkeit zu trauern“

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  18. Warum, so frage ich mich, werden die Einlassungen, die Judith Butler vor Jahren zu Hamas und Hizbollah gemacht hat (und die von ihr wiederholt begründet und korrigiert wurden), von ihren KritikerInnen als Aufhänger genommen eine Art „Unfehlbarkeit“ von ihr in Sachen israel-palästinensicher Konflikt einzufordern?

    „Dumme“ Äußerungen im Zusammenhang mit diesem unsäglichen Konflikt wurden und werden von unterschiedlichen Leuten aus Kultur und Politik doch ständig vom Stabel gelassen. Im Unterschied zu diesen praktiziert Butler eine Haltung der Ein-sicht im Sinne von „beziehungsweise weiterdenken“.

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  19. Soeben entdeckt: die Dankesrede von Judith Butler:

    Kann man ein gutes Leben im schlechten führen?

    [http://www.fr-online.de/kultur/judith-butlers-dankesrede-kann-man-ein-gutes-leben-im-schlechten-fuehren-,1472786,17255122.html]

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  20. @Ute Danke für den Link! Ich bin auch dem Link gefolgt, den du oben angegeben hast, und habe die Originalversion in der taz gefunden: Pro und Contra Adorno-Preis.

    Mein wichtigstes Fundstück ist jedoch der Kontext zu Judith Butlers Äußerungen zu Hamas und Hisbolla: Judith Butler on Hamas, Hezbollah & the Israel Lobby (2006) . Die Seite enthält das Transkript von dem, was Judith Butler gesagt hat, aber auch ein Video, das sogar noch mehr Kontext enthält, nämlich alle Fragen, die auf diesem Teach-In gestellt wurden, auch die, die von anderen Rednern beantwortet wurden.

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  21. @susanna – bin gerade dabei die Ferienkoffer zu packen, so dass ich jetzt leider die Debatte nicht weiter verfolgen kann. Hole ich bei meiner Rückkehr nach. 🙂

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  22. @ susanna14: Zunächst mal hast Du völlig Recht damit, dass es recht banal ist, dass Menschen um die Toten ‚der anderen‘ nicht recht trauern können. Nicht nur in Kriegen, wo die anderen ja die Feinde sind, sondern auch einfach, wenn es um Tote außerhalb des eigenen Gesichtskreises geht.

    Dass es außerdem Schwierigkeiten bereitet, über den Tod von unbekannten Menschen zu trauern im eigentlichen Sinne, stimmt auch, das dachte ich auch schon, als ich den Satz aufschrieb, den du aufnimmst. Aber mir fällt auch keine andere Tätigkeit oder kein anderer Prozess ein, die/der dem halbwegs adäquat wäre. Mit der politischen Aktivität ist es so eine Sache, die kann auch leicht von der Ungerechtigeit des Todes ablenken – besonders wenn Beerdigungen zu Demonstrationen gemacht werden. Dann werden doch die Toten für ein übergreifendes Ziel genutzt, und am Ende können die Unsensiblen sagen, gut, dass uns ihr Tod auf Problem xy aufmerksam gemacht hat. Empörung hingegen gefällt mir schon ziemlich gut, denn schließlich geht es aus meiner Sicht um das Gefühl, das vielleicht viele haben, dass ‚ich‘ mit der Tatsache von 1000-3000 Ertrunkenen Migrant_innen im Mittelmeer eigentlich gar nicht leben kann. Natürlich müssen ‚wir‘ damit leben. Ich hätte also vielleicht formulieren sollen, ich bemerke, dass viele diese Ungerechtigkeit des gewaltsamen und unnötigen Todes nicht wahr haben wollen, obwohl sie von ihr wissen. Und ich glaube, es fehlt ganz oft die Zeit bzw. das Ritual, sich damit zu beschäftigen und überhaupt erst empört zu werden.

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  23. @ Uta Plass „Vielleicht auch aus Gründen der Scham und Schuldabwehr?“

    Ja, kann sein, aber das setzt doch auch voraus, dass den Leuten der so häufige anonyme, aber ungerechte Tod sehr nahe geht und sie ihn auch unbewusst mit sich in Verbindung bringen. D.h. sich dafür schuldig fühlen. Schuldabwehr wäre sozusagen Trauerabwehr dritten Grades, wo wir doch wissen, dass schon Schuld eine Methode ist, Trauer zu bewältigen (Macht zurück zu geben, Sinn zu stiften, Beziehungen über den Tod hinaus zu halten). Ich glaube ja eher, dass der Tod selbst einfach verdrängt wird, erst Recht, wenn es um den ungerechten Tod geht und dass Schuldgefühle mangels Empathie gar nicht erst entstehen.

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  24. Eben habe ich zufällig einen Teil von Judith Butlers Rede gehört, die im Deutschlandfunk ausgestrahlt wurde. Ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas so Verworrenes gehört zu haben. Dieses Verworrene formuliert sie oft leicht variiert ein paar Sätze später noch einmal aus, und etwas später dann noch einmal. Ich vermute, die spärliche Substanz, die nach einer Kürzung um alle Wiederholungen übrigbleiben würde, ließe von den 25 Minuten ihrer Rede nur 5 bestehen.

    Gleichzeitig gelingt es ihr, sprachlich so bedeutungsschwanger daherzukommen, daß ich lange immer wieder denken mußte: „Jetzt kommt bestimmt gleich ein wichtiger Gedanke, eine klare Aussage.“ Man könnte das fast schon als Kunst anerkennen.

    Mein vorläufiges Fazit: Es wäre gut gewesen, wenn zumindest die akustischen Medien diese Seifenblasen, diese Zumutung für die Zuhörer, tatsächlich ignoriert hätten. In gedruckter Form oder im Netz kann man nach kurzem Hineinlesen wenigstens zu etwas Gehaltvollerem weiterspringen.

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  25. @kimberra Ob der Tod eines Menschen instrumentalisiert wird oder nicht, wenn man ihn zum Anlass nutzt, dieses oder jenes Problem anzugehen, hängt vor allem davon ab, dass man bei der Analyse der Ursachen sorgfältig vorgeht und nicht den Tod dieses Menschen nutzt, um politische Ziele zu verfolgen, die mit dem Tod dieses Menschen nichts zu tun haben. Und natürlich sollte man nicht sagen, der Tod dieses Menschen sei zu etwas gut gewesen, nämlich auf das Problem aufmerksam zu machen. Stattdessen ist es immer bedauerlich, dass erst jemand sterben musste, damit das Problem erkannt wurde.

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  26. Noch eine off-topic-Frage (ich hoffe, sie ist nicht ganz off-topic): Hat jemand Berichte zu der Veranstaltung mit Micha Brumlik im Jüdischen Museum gefunden?

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  27. Ich war am Wochenende fleißig und habe etwas zu Judith Butler und dem Adorno-Preis geschrieben. Um es kurz zu sagen: Ich bin jetzt noch kritischer, als ich vorher war. Einfach auf meinen Namen neben dem Kommentar klicken, dann kommt ihr zu meinem Blog.

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  28. @Alexander Morhart
    Musste sehr lachen ob deines Kommentars. Geh dann lieber nie zu nem Sloterdijk Vortrag, und besser lass von Hörtexten von Gadamer, Heidegger und etlichen Andern dieser schillernden Kontinentalphilosophen die Finger. Hab mal in den Text reingeschat, habe mich nie groß um Butler gekümmert, aber das klingt unheimlich sympathisch und schwer nach Hannah Arendt. Wenn sie früher mit dem feministischen „Foucault“ kam mochte ich das nicht so. Aber die Rede war sehr gut. Applaus von mir!
    Und ich denke wie sie Leben definiert (sozial-normativ) liegt auf der Hand.
    @susanna14
    Trauern tu ich auch mit Bambi, im ernst, und das ist nicht mal ein echter Mensch…

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  29. @Tobe:
    Aber hier nimmt dir das Kino die Arbeit ab, die sonst durch eigene Anstrengung tun müsstest, nämlich dir vorstellen, wie es denen geht, die mit ihrem Flüchlingsboot untergehen, und wie es deren Angehörigen geht oder denen, die mitgereist sind und gerettet wurden. Und ich gehe auch mal aus, dass du aufhörst zu trauern, wenn der Film zuende ist – dies können diejenigen, die einen Angehörigen verloren haben, in aller Regel nicht.

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  30. @susanna – sehr beachtlich, wieviel Zeit und Mühe du dir mit deinem dreiteiligen Reflexionstext gemacht hast. Auch wenn es auf den ersten Blick so klingt, als ginge es dir darin vor allem darum, Judith Butler der Lüge zu überführen (bezüglich ihrer Hamas-Hizbollah-Äußerung), so vermute ich mal, dass das nicht der alleinige Beweggrund gewesen sein kann, sich so intensiv mit Butler und d. Adorno-Preisverleihung auseinander zu setzen – oder?

    Mein Eindruck ist, dass in der Butler-Sache einiges vermischt wird, was es gilt auseinander zu halten: Trennung zwischen Werk und Person.
    Butler hat den Preis für ihre Leistungen auf dem Gebiet der Philosophie und d. Kulturwissenschaft verliehen bekommen. Zurecht, wie Brumlik, Jaeggi und andere KulturwissenschaftlerInnen sagen (deren fachlichem Urteil ich als Nicht-Butler-Kennern eher traue, als Kramer, Graumann…) da sie, indem, was sie betreibt, Großes geleistet hat und heute zu einer der meistzitierten philosophisch ausgerichteten KulturwissenschaftlerInnen der Welt gehört.
    Die politischen Positionen Butlers sind völlig unerheblich für die Beurteilung ihrer wissenschaftlichen Leistung.

    Wenn du dir über die politische Denkweise von Butler mehr Klarheit wünschst, dann wäre es doch angesagt, mit ihr direkt darüber ins Gespräch zu kommen.
    Ihre Aufforderung: “Fangen wir an, miteinander zu sprechen” dürfte ja an alle ihre KritikerInnen gerichtet sein. Das wäre doch einen Vesuch wert – finde ich 🙂

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  31. Mir fallen beim Stichwort „Nicht-Betrauerbare“ immer auch die Tiere ein. Die werden ja in großen Mengen in die Schlachthöfe getrieben und nicht betrauert, sondern verpackt für die Tiefkühltruhe und gegessen.

    Ich betrauere sie, andere sind empört, wenn man in einer Debatte, die sich um Menschen dreht, an Tiere auch nur denkt.

    Menschen sind sehr unterschiedlich. Was betrauerbar ist und was nicht in den Augen der/des Einzelnen, das hängt von den Vor- und Werturteilen ab, die man mitibringt. Um die geht es ja im Grunde, und mit denen muss man sich auch auseinandersetzen. Ich finde aber, dass diese Notwendigkeit in Butlers strukturalem Denken untergeht, und das stört mich.

    Welchen Schluss soll ich aus Butlers Denken ziehen? Dass ich niemand mehr ausgrenzen darf und gefälligst jeden zu betrauern habe?

    Tut mir leid, das geht nicht, das will ich auch nicht. Es gibt Menschen, deren Tod ich nicht betrauere, schlimme Übeltäter, Mörder, Vergewaltiger, SS-Verbrecher, gewalttätige Islamisten usw. Natürlich tut es mir Leid, dass Menschen böse werden, und ich hoffe, bei Gott sind sie wieder gut, aber ich bin nicht Gott und sehe mich nicht verpflichtet, seine Perspektive einzunehmen.

    Ohne Ausgrenzung geht es nicht. Aber man sollte sich eben Gedanken darüber machen, wen man aus welchen Gründen ausgrenzt bzw. nicht mehr ausgrenzen will – betrauerbar machen will. Und diese Gründe diskutieren. Im Einzelfall. Und Verantwortung übernehmen für das Ausgegrenzte. Denn das ist auch ein Punkt, der schwierigste: Das Ausgegrenzte gehört auch zu einem. Wie damit umgehen?

    Ich finde, über all diese Dinge kann man nur konkret sprechen. Ich empfinde Butler als unkonkret, unfähig zu klaren Ansagen. Und ich frage mich, was ihr das bringt, dieses Nebulöse. Mich nervt es.

    Mit so allgemeinen Floskeln wie „betrauerbar – nicht betrauerbar“ und generellen Warnungen ist nicht geholfen, finde ich. Soll ich mit schlechtem Gewissen durch die Gegend rennen, dass ich nicht alle gleich lieb haben kann? Und auch gar nicht will?

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