Darüber wollte ich schon länger etwas bloggen, aber irgendwie brauche ich für sowas immer einen konkreten Anlass, und der kam heute morgen über meinen Feedreader. Heise berichtet darüber, dass einem verurteilten Straftäter nicht der Zugang zum Internet gesperrt werden darf:
Anlass für das Urteil war der Fall eines 55-jährigen Voyeurs. Er war verurteilt worden, weil er mit einer in einer Shampoo-Flasche mit einem Loch versteckten Handykamera ein vierzehnjähriges Mädchen beim Duschen fotografiert hatte. Dummerweise ging der Blitz in der Shampoo-Kamera los, wodurch das Mädchen aufmerksam wurde, das den Mann daraufhin anzeigte.
Das interessante Wort ist natürlich das „Dummerweise“, denn es macht sehr schön die „Positionierung“ des Autors dieses Artikels deutlich: Er identifiziert sich in der ganzen Geschichte mit dem fotografierenden Voyeur, und nicht etwa mit dem Mädchen oder dessen Eltern und Freundinnen.
Diese selbstverständliche Einnahme der Perspektive eines erwachsenen, weißen, gesunden Mannes beim Erzählen gesellschaftlicher Geschichten ist ein Überbleibsel unserer patriarchalen Kultur, die diese Sorte Mensch zur Norm erklärt hat, an der alle anderen gemessen werden müssen. Normalerweise ist diese Positionierung unsichtbar, denn heutzutage – wo das Patriarchat zu Ende ist – wird diese Norm des „alten weißen Mannes“ nicht mehr offensiv vertreten.
Wenn zum Beispiel in dem erwähnten Heise-Artikel der zuständige Redakteur oder die Redakteurin ihre Arbeit sorgfältig gemacht hätte, wäre das Wort „Dummerweise“ aus dem Artikel herausgestrichen worden. Nach den üblichen journalistischen Regeln darf man ja keine wertenden Erläuterungen verwenden. Dann hätte sich dieser Text vollkommen „neutral“ gelesen. Aber es wäre natürlich immer noch derselbe Autor mit seiner immer noch genauso positionierten Perspektive gewesen. Nur dass das nicht mehr „beweisbar“ gewesen wäre.
Im Zuge der Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts (des Proletariats, der Frauen, der Kolonialisierten und „Nicht-Weißen“) hat sich die Vorstellung verbreitet, wir lebten heute in einer „gleichberechtigten“ Gesellschaft, also einer, in der Unterschiede des Geschlechts, der Hautfarbe, des sozialen Status unwichtig sind, da wir alle „gleich“ seien.
Die Behauptung dieser Gleichheit und ihre Überführung in formale Gleichstellung vor dem Gesetz ändert aber nichts daran, dass die Norm, an der diese Gleichstellung sich bemisst, nach wie vor die des erwachsenen weißen Mannes ist. „Gleichgestellt“ wurden immer die „Anderen“. Es wurde ihnen erlaubt, genauso zu werden wie die Norm. Dass in der Realität eine Welt, die von lauter „erwachsenen weißen Männern“ bevölkert wird, nicht funktioniert (weil die „Anderen“ gerade weil sie als anders definiert wurden, als qua Natur zuständig fürs Kinderversorgen zum Beispiel, für das Funktionieren der alten Strukturen unverzichtbar sind), wurde dabei übersehen.
Diese kulturellen Muster der Unterscheidung zwischen „Uns“ (weißen erwachsenen Männern) und den „Anderen“ (Frauen, Armen, „Nicht-Weißen“) sind keine Frage von Gesetzen, sondern durchziehen sämtliche Bereiche der Politik, der Wissenschaft, der Kulturproduktion und des Alltagslebens bis an die Wurzeln. Das hat Simone de Beauvoir in Bezug auf die Geschlechterdifferenz en Detail in „Das andere Geschlecht“ herausklamüstert.
Was kann man nun aber praktisch tun, um aus dieser „Emanzipationsfalle“ herauszukommen?
Der wichtigste Punkt ist natürlich, diese Muster zu erkennen und sich bewusst zu machen. Das fällt logischerweise Menschen, die nicht zu den „Normalen“ gehören, leichter (auch wenn das kein Automatismus ist), weil sie ja laufend mit der Diskrepanz zwischen sich selbst und der „Norm“ konfrontiert sind. Es ist die alte banale Erfahrung, dass ich als Frau in einer Welt, in der ständig das generische Maskulinum verwendet wird (also die männliche Form manchmal wirklich Männer meint, manchmal aber alle Menschen), von klein auf darin trainiert wurde, mich zu fragen, ob ich „mitgemeint“ bin oder nicht – ein Training, das Männern fehlt, weil sie ja automatisch „mitgemeint“ sind, es sei denn, da steht ausdrücklich eine weibliche Form (aus der sie dann bezeichnenderweise sofort schließen, das Ganze ginge sie nichts an).
Aber dieser Mechanismus betrifft eben nicht nur die Sprache, wo es noch relativ einfach ist. Die kulturellen Muster gehen viel tiefer, und es ist oft wirklich nicht leicht zu durchschauen, welche Position in einer bestimmten Situation die dominante ist, die sich selbst zur Norm setzt.
Der Ruf nach „Objektivität“ ist jedenfalls gerade nicht geeignet, um das oben skizzierte Problem zu lösen, weil er die „Normativität“ ja gerade bekräftigt. Äußerliche „Objektivität“ (sich an gesetzliche Verfahrensweisen halten, keine wertenden Ausdrücke benutzen) kann sogar dazu dienen – und tut das auch oft – die eindeutige Positionierung derjenigen, die der Norm entsprechen, erst recht zu verschleiern. Sie behaupten dann zum Beispiel, sie würden doch einfach nur „objektiv“ und „rational“ vorgehen. Und es ist unmöglich, ihnen das Gegenteil zu „beweisen“. (Es ist aber möglich, sie zu überzeugen, allerdings nur, wenn sie an dem Thema wirklich ernsthaft interessiert sind).
Es ist dieser Mechanismus, auf den politische Praktiken antworten, die derzeit unter Stichworten wie „Definitionsmacht“ oder „Geh erstmal deine Privilegien checken“ vorgeschlagen werden. Sie sind der Versuch einer Antwort auf die Tatsache, dass es logisch nicht möglich ist, eine vorgegebene Norm zu brechen, indem man sich den Regeln dieser Norm unterwirft. „The master’s tools will never dismantle the master’s house“, wie es Audre Lorde auf den Punkt gebracht hat.
Bei der Aufforderung, die eigenen „Privilegien zu checken“ handelt es sich also nicht um ein moralisches Verdikt nach dem Motto: „Du, erwachsener weißer Mann, bist ein mit Schuld beladener Mensch und darfst dich daher zum Thema XYZ nicht äußern“. Sondern es ist eine politische Erkenntnis und Praxis, die so viel bedeutet wie: „Ob du, erwachsener weißer Mann, etwas verstehst oder einsiehst, ist nicht der Maßstab, an dem wir unseren Diskurs sinnvollerweise ausrichten können.“
Das ist eine große symbolische Veränderung, denn unsere gesamte Kultur gündet auf der Vorstellung, gesellschaftliche Änderungen könnten sich nur so vollziehen, dass erwachsene weiße Männer von irgendetwas überzeugt werden – und zwar von alten patriarchalen Zeiten, in denen die erwachsenen weißen Männer ihre Definitionsmacht noch ganz ausdrücklich hervorkehrten („Ich bin hier der Herr im Haus“) bis zu heutigen gleichgestellten Zeiten, in denen sie sie über Bande spielen und behaupten, für universale Rationalität zu stehen („Beweis mir das erstmal, erklär mir das erstmal“).
Wenn hingegen „die Anderen“ für sich Definitionsmacht beanspruchen, dann bedeutet das: Wir brauchen euch von gar nichts zu überzeugen. Was zum Beispiel eine Vergewaltigung ist, was eine sexuelle Belästigung ist, dafür gibt es keine „wissenschaftlichen Beweise“, sondern es ist eine Frage der Entscheidung und der Werte, die man setzt. Die Praxis der Frauenbewegung war einfach, dass sie der patriarchalen Definition (Vergewaltigung ist, wenn ein „böser, anderer Mann“ seinen Penis in den Körper einer von „unsere Frauen“ steckt und dabei körperliche Gewalt anwendet) eine andere Definition entgegengesetzt hat (Vergewaltigung ist, wenn die Grenzen der sexuellen Selbstbestimmung und Freiheit eines Menschen überschritten werden).
„Definitionsmacht“ bedeutet, dass die „Anderen“ selbst definieren, welche Bedeutung sie bestimmten Handlungen und Phänomenen geben. Es bedeutet, dass sie sich weigern, sich an einem Diskurs zu orientieren, der sich selbst bereits zur Norm gesetzt hat.
Es bedeutet nicht, dass alle „Anderen“ (alle Frauen, alle People of Color, alle Menschen mit Behinderung und so weiter) einer Meinung wären. Um beim Thema Vergewaltigung zu bleiben: Es gibt unter Frauen natürlich eine große Bandbreite an unterschiedlichen und sogar gegensätzlichen Ansichten darüber, wie Vergewaltigung zu bewerten und mit ihr umzugehen ist. „Definitionsmacht“ bedeutet nicht, der „Normmeinung“ eine kohärente „Anderenmeinung“ entgegen zu stellen. Sondern es bedeutet, dass bei diesen kontroversen Diskussionen etwa der Frauen über Vergewaltigung lediglich ihre eigenen Wünsche, ihr eigenes Begehren, ihre eigenen Ansichten der Maßstab sind und nicht das, was die Männer sich zu dem Thema bereits gedacht haben. Ähnlich lässt es sich auf die anderen Diskurse übertragen.
Das bedeutet nicht, dass Männer nicht über Feminismus mitdiskutieren dürfen und Weiße nicht über Rassismus. Wer sollte ihnen auch verbieten, ihre Meinungen und Argumente zum Thema zu äußern? Und jede Frau wäre doch bescheuert, wenn sie interessante, originelle und hilfreiche Anregungen, die ein Mann eventuell zum Thema Vergewaltigung einbringt, ignorieren oder gar verbieten wollte.
Es bedeutet auch nicht, dass die Diskurse, die auf diese Weise geführt worden sind, dann nicht auch anschließend in die Mainstreamdiskurse hinein vermittelt werden sollten. Diese Option (auf die Vermittlungsarbeit zu verzichten) gibt es faktisch auch gar nicht, weil die „Anderen“ schon allein aufgrund der bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse unweigerlich irgendwann (und meist ziemlich schnell) in Situationen geraten, in denen ihnen gar nichts anderes übrig bleibt.
Nein, es geht ausschließlich darum, dass Männer und Weiße nicht mehr automatisch erwarten können, dass ihre Beiträge auch auf Interesse und Aufmerksamkeit stoßen. Dass sie keinen Anspruch mehr darauf erheben können, dass „die Anderen“ ihre selbst erarbeiteten Maßstäbe im Alltagsleben erst dann anwenden dürfen, dass sie ihr persönliches Handeln erst dann daran orientieren können, wenn es ihnen gelungen ist, die „Normalen“ davon zu überzeugen.
Es ist, nebenbei, höchst aufschlussreich, dass so viele Männer und so viele Weiße das eine vom anderen nicht unterscheiden können.

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