Ich denke weiter über Körpernormen nach. Nach wie vor glaube ich, dass sich heute im Vergleich zu vor dreißig Jahren (als ich 18 war) etwas wichtiges verändert hat, dass der Unterschied aber nicht darin liegt, dass Frauen sich zu dick fühlen – das taten sie damals wie heute – sondern darin, dass das Thema Körper und Aussehen heute einen anderen Stellenwert und eine andere gesellschaftliche Bedeutung hat. Aber welche?
Schon in der Kommentardiskussion zu meinem ersten Blogpost entstand bei mir die Vermutung, dass die Unzufriedenheit mit dem Körper heute möglicherweise oft nicht nur das ist, was es besagt – Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper eben – sondern dass das Körperthema ein Kulminationspunkt ist für Unzufriedenheiten aller Art mit sich selbst.
Selbstzweifel, ein gewisses Sich ungenügend Fühlen, gehört unweigerlich zum Leben dazu. Nobody is perfect. Heute aber herrscht, anders als früher, ein enormer Druck bei der Lebensplanung: unsichere Jobsituation, unsichere familiäre Rollenmodelle, ungewisse Zukunft – all das ist ein guter Nährboden dafür, sich ungenügend und überfordert zu fühlen.
Aber ich höre selten Menschen darüber sprechen, dass sie sich bei der Arbeit ungenügend fühlen, dass sie Angst haben, die Prüfung nicht zu schaffen oder keinen Job zu finden, oder dass sie generell an ihren Plänen für das weitere Leben zweifeln. Vielleicht spricht man über so etwas mit guten Freund_innen, aber es ist kein Thema bei Smalltalk, von ständigen Bemerkungen nebenbei.
Hingegen zu sagen, dass eins sich dick fühlt, dass dieses Stück Kuchen jetzt eigentlich zu viel ist, dass man eigentlich fünf Kilo abnehmen müsste, das passiert häufig. Ich höre es von Kolleginnen beim Mittagessen, neulich sogar von einer Wildfremden an der Käsetheke. Zu sagen: „Ich bin zu dick“ ist viel einfacher, als über andere Dinge zu sprechen, bei denen eins sich ungenügend gefühlt. Es wird schneller verstanden, ist sozial akzeptiert und nicht weiter erklärungsbedürftig. Aber es erfüllt eben dennoch den Zweck: das chronische Gefühl des Nicht-Genügens einfach mal rauszulassen, mit anderen zu teilen.
Zumal heutzutage Mittelmäßigkeit ja nicht mehr erlaubt ist. Das zeigt sich zum Beispiel in einem veränderten Verhältnis der „normalen Leute“ zu den „Stars“. Früher waren Stars etwas zum Anhimmeln, zum „Vergöttern“ (die Garbo), aber nichts, was eins ernsthaft auf sich selbst bezog. Die Garbo war die Garbo, und meine Mutter eine ganz normale Hausfrau. Heute hingegen sind Stars „Benchmarks“ für alle.
Das ist der eigentliche Grund dafür, warum Formate wie Germanys Next Topmodel so problematisch sind. Sie sagen uns nicht mehr: „Schau mal, wie außergewöhnlich schön diese Schauspielerin ist“, sondern: „Du kannst auch ein Topmodel sein, Du musst dich nur halt ein bisschen anstrengen.“
Hier schlägt letztlich eine pervertierte Variante der demokratischen Parole von der „Gleichheit aller Menschen“ durch, kombiniert mit einer Elitenideologie, in der Mittelmäßigkeit keinen Platz mehr hat. Und vielleicht ist das das eigentliche Problem: dass uns die Option auf Mittelmäßigkeit als normale und akzeptierte Daseinsform verloren gegangen ist, während es doch gleichzeitig in der Natur der Sache liegt, dass die Mehrzahl der Menschen eben mittelmäßig sind, in so ziemlich allen Bereichen des Lebens.
Früher war es eben ganz normal, mittelmäßig zu sein und ein durchschnittliches Leben zu führen. Natürlich ging das zuweilen auch mit einer ekligen Spießbürgerlichkeit einher. Man war stolz, nicht ins soziale Abseits „abzurutschen“ (und schaute verächtlich auf jene hinab, die sich dort befanden), hatte aber keinerlei Ambitionen, in die Glitzerwelt der Schönen und Reichen aufzusteigen. Das war ein gemütliches Leben, sozusagen.
Das Negative daran war diese „Schuster bleib bei deinen Leisten“-Ideologie, die zu Recht vom demokratischen Gleichheitsgedanken kritisiert worden ist. Weil sie verhinderte, dass Menschen überhaupt Ambitionen des Aufstiegs entwickelten. Aber der Kampf dafür, dass einzelne, die das wollen, die Möglichkeit zum Aufstieg bekommen, ist längst schon umgeschlagen in den Zwang zum Aufstieg. Wenn die das kann, warum du nicht auch?
Ein Freund erzählte mir von einem Managementprinzip in einem großen US-amerikanischen Konzern, das so funktioniert: Jedes Jahr werden die Top-Performer, die leistungsmäßig obersten 10 Prozent, belohnt, und die untersten 20 Prozent entlassen. Die Mittelmäßigen werden noch ein weiteres Jahr geduldet. Das System zeigt: Nur die Topleute sind wichtig, die Schlechten werden rausgeschmissen, und die Mittelmäßigen können nicht mittelmäßig bleiben, denn wenn sie sich nicht anstrengen und besser werden, sondern einfach nur so bleiben, wie sie sind, werden sie unweigerlich irgendwann aussortiert (das ist nur eine Frage der Zeit, weil ja der Abstand nach „unten“ immer kleiner wird).
Diese Ideologie, wonach es nicht mehr genügt, mittelmäßig zu sein, sondern man zum Überleben Top sein muss, führt paradoxerweise gleichzeitig zu einer gesellschaftlichen Uniformierung. Denn nicht mehr die Einzigartigkeit zählt (die lässt sich nämlich nicht benchmarken), sondern die Vergleichbarkeit. Die Qualität einer Person oder einer Arbeitsleistung wird nicht mehr in absoluten Werten gemessen (ist sie gut oder schlecht), sondern in relativen (ist sie besser oder schlechter als…).
Wirkliches Expertinnentum funktioniert nicht über Konkurrenz. Ich bin zum Beispiel „Germanys Topmodel“ in Bezug auf Wissen über Frauen in der Ersten Internationale. Aber da ich so ungefähr die einzige bin, die sich mit diesem Thema überhaupt auskennt, lässt sich dazu kein Ranking aufstellen. Ich bin die Beste von einer Gruppe, die aus einer Person besteht, haha. Ranglisten und Topmodels lassen sich nur bestimmen, wenn man Menschen vergleichbar macht. Mit Spezialthemen funktioniert das nicht. Man braucht also Themengebiete, wo es überhaupt möglich ist, miteinander konkurrieren.
Und das einzige, was wir tatsächlich alle gemeinsam haben, wo wir allesamt miteinander verglichen werden können, ist ein Körper. Wir alle sehen irgendwie aus. Das Aussehen ist schlicht und einfach das simpelste und vielleicht sogar einzige Thema, bei dem sich eine ganze Gesellschaft miteinander in einen Wettbewerb begeben kann.
Ich glaube, dass das der Grund dafür ist, warum unsere Gesellschaft eine solche Obsession in Bezug auf das Aussehen entwickelt hat. Der Kern dieses ganzen Schlamassels ist in Wahrheit gar nicht der Körper und seine Normierungen, sondern die Verkorkstheit unserer gegenwärtigen Kultur, die ständig alles mit allem vergleichbar machen will, weil sie keine wirklichen Qualitätskriterien mehr kennt.
Vielleicht könnte das sogar ein Grund sein für das große (und für mich immer so unverständliche) Bedürfnis nach „Genderisierung“ von Kindern, nach klaren Grenzen zwischen Jungen und Mädchen in blau und rosa: Die Geschlechterdifferenz zu zementieren, wenn auch auf alberne Art und Weise, könnte vielleicht ein letzter verzweifelter Versuch sein, wenigstens einen einzigen Bereich der Vergleichbarkeit zu entziehen. Wenn Frauen so sind und Männer so, dann spielen sie in verschiedenen Contests und brauchen nicht gegeneinander anzutreten.
Eine Gesellschaft, in der „Top-Sein“ nicht mehr an den eigenen, jeweils individuellen Begehren und Interessen orientiert ist, sondern daran, auch von der Allgemeinheit, von Hinz und Kunz sozusagen, als „Top“ anerkannt zu werden, ist dysfunktional. Sie behindert Individualität und Originalität, weil nur zählt, was vergleichbar ist. Und damit wird dann über die Hintertür die Mittelmäßigkeit wieder einführt, weil am Ende alle gleich und „normschön“ sind und grottensterbenslangweilig.
Das Gegenbild, das ich dazu im Kopf habe, sind die nächtelangen Gespräche, die ich als Doktorandin mit einer Freundin führte. Sie war ebenfalls Wissenschaftlerin und Expertin für eine ganz bestimmte Sorte antiker Romane. Die Welt um uns herum interessierte sich weder für ihr Forschungsthema noch für das meine, aber wir hatten tolle Gespräche. Wir kamen nie in Versuchung, miteinander zu konkurrieren, das wäre vollkommen absurd gewesen. Ich habe keine Ahnung von antiker Romanliteratur, und sie hatte keine Ahnung von Frauen in der Ersten Internationale. Und genau deshalb waren unsere Gespräche so interessant – wir hatten einander viel zu erzählen.
Die Sache ist also nicht aussichtlos, denn wir haben immer die Wahl: Sehen wir in anderen Menschen lauter herummäkelnde Heidi Klums, die uns antreiben, genauso „gut“ (schlank/normschön/sexy) zu werden wie sie selbst es (angeblich) sind?
Oder erkennen wir in ihnen die Garbo, sehen wir sie also wirklich als Andere, lassen uns von ihnen faszinieren, gerade weil wir nicht mit ihnen vergleichbar sind? Bewundern und respektieren wir sie, weil sie etwas können auf einem Feld, in dem wir selbst total mittelmäßig sind? Dann könnte unsere Begegnung wirklich interessant werden.


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