Anfang Juli machten Meldungen über eine Studie des britischen „Economic and Social Research Council” (ESRC) die Runde. Ausgehend von der schon aus vielen anderen Untersuchungen bekannten Tatsache, dass Frauen überall auf der Welt weniger Faktenwissen über politische Sachverhalte haben als Männer, wollte die Studie untersuchen, ob und wie diese Lücke zusammenhängt mit dem in einem jeweiligen Land erreichten Status an Geschlechtergleichheit.
Das für manche überraschende Ergebnis war, dass es eine deutliche kontra-intuitive Korrelation zwischen beidem gibt, dass nämlich dieser Unterschied umso größer ist, je gleichberechtigter die jeweiligen Gesellschaften sind. Frauen im emanzipationsmäßig vorbildlichen Norwegen, aber auch in UK oder Kanada haben im Vergleich zu ihren männlichen Landsleuten weniger politisches Faktenwissen als Frauen in Ländern mit eher patriarchalen Gesellschaftsstrukturen wie Südkorea, Griechenland, Italien oder Kolumbien. Dass es sich wirklich um eine Geschlechterdifferenz speziell in Bezug auf politisches Faktenwissen handelt, wurde durch Kontrollfragen zu anderen Themen verifiziert, bei denen sich keine solche Differenz gezeigt hat.
Mich hat das Ergebnis nicht so sehr überrascht, denn ich interessiere mich schon länger für die Unterschiede in Bezug auf das, was Frauen und Männer jeweils unter Politik verstehen, wie Frauen und Männer sich Politik wünschen und was ihnen dabei jeweils wichtig ist. So interessieren sich deutlich mehr Männer als Frauen für institutionelle Verfahrensweisen oder Parteikarrieren – man denke nur, jüngstes Beispiel, an die Urwahl der Grünen für ihr Spitzenduo zur Bundestagswahl, wo neben den vier aussichtsreichen Kandidat_innen sich noch zehn weitere Männer zur Wahl aufstellen ließen, aber keine einzige Frau.
Frauen unterscheiden deutlicher zwischen Macht und Politik, gehen seltener und weniger gern den Weg juristischer Auseinandersetzungen, haben ein weniger empathisches Verhältnis zu formalen Politikstrukturen und ihren Ämtern. Und daher ist es meiner Ansicht nach auch kaum verwunderlich, dass sie gerade dort, wo sie nicht mehr so sehr gegen formale und strukturelle Diskriminierung kämpfen müssen, andere Prioritäten setzen. Je größer die Freiheit der Frauen ist, umso weniger sehen sie sich genötigt, sich an einer männlichen Norm orientieren zu müssen, um anerkannt zu sein. Sie beschäftigen sich eben mit den Sachen, die sie wirklich interessieren, und nicht mit denen, für die sie sich unter Gleichstellungsgesichtspunkten interessieren sollten. Und wenn sie sich für institutionelle Repräsentationspolitik nicht so sehr interessieren, wissen sie natürlich auch nicht so viel darüber.
Weil aus den Pressemeldungen aber nicht genau ersichtlich war, wie die Studie aufgebaut war, welche Fragen genau in welchen Ländern überhaupt gestellt wurden, und wie die Ergebnisse im Detail ausgefallen sind, habe ich mir eine umfangreiche Auswertung schicken lassen – was, großes Lob an den ESRC – auch sehr unkompliziert mit einer simplen Mail ging.
Leider war Deutschland nicht dabei, die Studie hat einen starken Fokus auf die anglophonen Länder: Australien, Kanada, USA und UK waren sozusagen das eigentliche Interesse, die anderen Länder dienten vor allem als vergleichende Beispiele. Aus Europa waren Griechenland, Italien und Norwegen dabei, aus Asien Südkorea und Japan, aus Lateinamerika Kolumbien. Kein einziges Land aus Osteuropa und auch keines aus Afrika waren vertreten.
Dass Afrika und Osteuropa gefehlt haben, ist deshalb schade, weil dort noch einmal ganz andere Gesellschaftsstrukturen gerade in Bezug auf das Geschlechterverhältnis vorherrschend sind. Dass Deutschland fehlte, ist schade, weil hier das Setting mit Angela Merkel als Bundeskanzlerin anders ist als in Ländern mit männlichen Regierungschefs. Zumal die Studie einen Zusammenhang ergeben hat, wonach Frauen mehr Faktenwissen über Politik haben, wenn Frauen in der politischen Berichterstattung vorkommen und wenn Frauen Akteurinnen mit politischen Ämtern sind.
Besonders interessant fand ich in diesem Zusammenhang, dass vor allem die „Quality-Papers“ (also die großen Zeitungen mit politischem Schwerpunkt) sehr viel mehr Aktivitäten von Männern berichten als Aktivitäten von Frauen, und zwar relativ unabhängig vom Stand der Gleichberechtigung in dem jeweiligen Land. Im Fernsehen hingegen ist das Verhältnis von Frauen und Männern weniger krass verzerrt (wenn auch lange nicht ausgewogen) – allerdings stellt sich dabei natürlich auch noch die Frage, wie Frauen dort gezeigt werden. Jedenfalls geben laut Studie in allen Ländern die Männer einen deutlich größeren Medienkonsum an als die Frauen, und zwar in allen Medien (Zeitungen, Fernsehen, Radio, Internet).
Ich sehe dabei durchaus auch einen Zusammenhang mit der oben erwähnten Geschlechterdifferenz im Bezug auf das, was jeweils unter Politik verstanden wird. In den Medien (und in den Fragen der Studie) steht vor allem das im Fokus, was italienische Feministinnen einmal „zweite Politik“ genannt haben, nämlich jene Politik, die die konkreten Kontexte des menschlichen Zusammenlebens in Richtung strukturelle Repräsentationslogik verlassen hat. Die „erste Politik“ hingegen findet im Lokalen statt, in Gewerkschaften, Schulbeiräten, Nachbarschaftsinitiativen, Umweltgruppen und so weiter. Aber über diese „erste Politik“ wird kaum in den „großen“ Medien berichtet, und deshalb wurde nach ihr auch nicht in der ESRC-Studie gefragt, denn die Fragen wurden jeweils landesspezifisch konstruiert anhand dessen, was von den „großen“ Medien berichtet worden war.
So entstand natürlich ein feiner Zirkelschluss: Die Medien berichten vor allem über das, was Männer tun und was Männer interessant finden, dann wird das, worüber die Medien berichten, für das relevante Wissen über Politik gehalten und zur Grundlage für Fragen gemacht, die dann – Überraschung! – Männer „richtiger“ beantworten als Frauen.
Trotzdem ist aber die Geschlechterdifferenz längst nicht der einzige Faktor, der hier eine Rolle spielt. So ist der Unterschied zwischen den einzelnen Ländern größer als der zwischen den Geschlechtern. Generell über wenig politisches Faktenwissen verfügen Menschen in Amerika, also Kolumbien und USA sowie die Frauen in Kanada (sie beantworteten weniger als 40 Prozent der Fragen richtig), während die Menschen in allen anderen Ländern sowie die kanadischen Männer vergleichsweise eng beisammen liegen (zwischen 40 und 60 Prozent richtige Antworten) und lediglich die norwegischen Männer mit über 70 Prozent richtigen Antworten einen Ausreißer nach oben bilden.
Außerdem gibt es auch eine klare Alterskorrelation: Je älter die Menschen sind, desto mehr politisches Faktenwissen haben sie, wobei dieser Trend bei den Männern stärker ist als bei den Frauen. Man kann also durchaus mit gewissem Recht sagen, dass die „zweite Politik“ ein spezielles Interessensgebiet älterer Männer darstellt. (Soziale Unterschiede etwa in Bezug auf Einkommen oder kulturellen Hintergrund wurden nicht gesondert untersucht, sondern nur bei der Auswahl der Befragten auf eine repräsentative Mischung bezüglich der Bevölkerung des jeweiligen Landes geachtet).
Bemerkenswert ist auch, dass der „Alterssprung“ hin zu mehr Wissen sich bei den Frauen erst jenseits der 54 Jahre zeigt, während Männer bereits ab 35 Jahren mehr Fragen richtig beantworten. In der Studie wird das damit erklärt, dass Frauen erst in höherem Alter sich politisches Faktenwissen aneignen, was damit zusammenhängen könnte, dass ihnen vorher die zeitlichen Ressourcen wegen Kindererziehung und -betreuung fehlen. Aber ich halte das nicht für den hauptsächlichen Grund, zumal die jüngeren Frauen ja offenbar durchaus Zeit haben, sich über andere Themen zu informieren.
Ich glaube, dass sich hier vor allem kohortenspezifische biografische Erfahrungen niederschlagen. Die Studie war ja keine Langzeitstudie, sondern nur eine Momentaufnahme, das heißt, die Ergebnisse bilden das Politikverständnis und -interesse bestimmter Jahrgänge ab. Die Unterschiede zwischen den Altersgruppen müssen ihre Ursache also nicht im Alter als solchem haben, sondern das höhere politische Faktenwissen älterer Frauen auch in „gleichgestellten“ Ländern könnte damit zusammenhängen, dass diese Länder früher, als die betreffenden Frauen jung waren, überhaupt noch nicht gleichberechtigt waren. Erst die jüngeren und mittelalten Frauen sind ja bereits unter den Bedingungen relativ großer Gleichberechtigung aufgewachsen. Daher könnte der von mir vermutete Effekt, dass nämlich Frauen unter gleichberechtigteren gesellschaftlichen Bedingungen sich eher dafür entscheiden, andere Prioritäten und Relevanzkriterien in Punkto Politik zu setzen, eben für die älteren Frauen nur eingeschränkt gelten.
Bei den Männern hingegen hält sich der Charme der „zweiten Politik“ auch noch in den mittleren Alterskohorten der 35-54-Jährigen. Erst die noch jüngeren Männer interessieren sich für die Fakten dessen, was institutionellerweise als „Politik“ verstanden wird, fast so wenig wie die Frauen.
Die Verantwortlichen der Studie ziehen am Ende auch selbst den Schluss, dass ihr Ansatz eigentlich nicht geeignet war, um das politische Wissen und das Politikinteresse von Frauen zu erfassen, weil sie sich von der ganzen Anlage her eben an dem orientiert haben, was – vor allem ältere – Männer für Politik halten oder ins Zentrum ihres politischen Interesses stellen, und zwar sowohl die Politiker als auch die Journalisten und Redakteure der „quality papers“ als auch die normalen Bürger.
Von daher hoffe ich, dass das Vorhaben weiter verfolgt wird, das am Ende der Zusammenfassung der ESCR-Studie skizziert ist, nämlich der jetzigen Untersuchung über ‚männliche‘ Politik noch eine über ‚weibliche‘ Politik folgen zu lassen:
Women do as well or better than men in answering questions about ‚feminine‘ political knowledge such as local social policies that are more relevant to everyday life, or about specific politics pursued by women politicians. In order to track down whether or not national gender equity regimes influence women’s knowledge of ‚feminine‘ politics, we would like to revisit this subject and develop a questionnaire that better captures awareness of the political issues that women see as the most important.
Nur dass ich hier eben statt von ‚männlicher‘ und ‚weiblicher‘ lieber von ‚zweiter‘ und ‚erster‘ Politik sprechen würde.

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