Ich kann „unsere“ Probleme mit der Versorgung von Flüchtlingen oder der Bedrohung durch den IS gerade nicht so wirklich in eine Relation bringen zu den sich zeitgleich abspielenden, aber um so Vieles dramatischeren Problemen, die durch kapitalistische Raffgier verursacht werden: speziell die Umweltkatastrophe am Rio Doce in Brasilien (mehrere Millionen Menschen ohne Trinkwasserversorgung und mit zerstörten Lebensgrundlagen – Video) oder durch die Brandstiftungen in Indonesien (500.000 Menschen mit Atemwegserkrankungen, riesige Flächen Urwald inklusive Tiere verbrannt).
Dass gegen diese systematische, quasi routinemäßige Erzeugung von Elend und Leid etwas unternommen wird, ist leider sehr viel unwahrscheinlicher als dass der IS irgendwann besiegt wird. Und genau deshalb wäre es wichtig, dort „mitzuleiden“ und zu überlegen, ob sich irgend etwas tun lässt. Zumindest könnten wir diesen Ereignissen einen Teil unserer Aufmerksamkeit widmen.
Ich weiß, dass es unsinnig ist, existenzielle Problemen gegeneinander aufzurechnen, weil jedes für sich absolut wichtig ist. Aber die Diskrepanz der Kategorien, unter denen zurzeit Dinge als „wichtig“ und „unwichtig“ einsortiert werden, ist für mich momentan schwer auszuhalten. Während meine Timelines seit Wochen vor Flüchtingen und IS überquellen, haben mich Nachrichten über die beiden Umweltkatastrophen nur mit Verzögerung erreicht (immerhin muss ich meinen Filterbubbles zugute halten, dass sie mich überhaupt erreicht haben), und es dauerte lange, bis mir die Dimensionen dessen, was dort geschieht, klar wurden (über die brasilianische Katastrophe zum Beispiel wurde in den deutschen Medien erstmal total verharmlosend geschrieben, unter „Vermischtes“).
Zumal es einen direkten Zusammenhang gibt: Wenn die Zeitungen und Fernseher über Wochen und Monate randvoll sind von „Flüchtlingskrise“ und „IS-Terrorgefahr“, haben andere Themen nicht auch nur den Hauch einer Chance, in unseren Wahrnehmungsbereich vorzudringen. Dieser Monothematismus, der die öffentlichen Debatten zunehmend kennzeichnet, hat objektiv die Funktion einer Ablenkung von anderem.
Unsere „Betroffenheit“ und „Besorgnis“ sind die Legitimation dafür, dass wir alles, was sonstwo auf der Welt passiert, einfach übersehen. (Sorry, das klingt jetzt total moralisch, ich weiß, dass das nicht gut ist. Ich habe keine Lösung).
Jedenfalls: Ich denke, dass das alles auch damit zu tun hat, wie wir uns das Böse vorstellen. Die IS-Kämpfer sehen ja schon quasi aus wie personifizierte Teufel, mit ihren schwarzen Kapuzen und ihrem martialischen Auftreten. Die Herren in Schlips und Anzug hingegen, die Brandstiftungen anordnen, um mehr Anbaufläche für ihre Palmölproduktion zu bekommen, oder die bei der Giftentsorgung ihrer Erzminen schlampen, weil sie damit ihre Gewinnmargen erhöhen können (40 Prozent Gewinn bei Samarco) – die sehen nicht aus wie Teufel. Die sehen so aus wie wir. Das sind respektierte Mitglieder unserer „zivilisierten“ Gesellschaft. Sie handeln nicht, wie der IS, nach irgendwelchen abgedrehten Mummpitz-Glaubenssätzen, von denen jeder vernünftige Mensch auf den ersten Blick sieht, dass es Mummpitz ist. Sondern sie handeln nach Maximen, die wir im Prinzip für legitim halten, und auf denen auch ein Großteil unserer eigenen Entscheidungen beruht.
Das ist die Banalität des Bösen, von der Hannah Arendt schrieb. Aber es wäre halt so schön, wenn wir den Teufel an seinen Hörnern erkennen könnten.
(PS: über das Böse denke ich schon länger nach, hier auch als Audio)

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