
Juli Zeh schreibt in ihrem Buch „Die Stille ist ein Geräusch“, in dem sie ihre Erlebnisse während einer Reise durch Bosnien im Jahr 2001 schildert, dass vor allem die Deutschen die Ursache für den Krieg und den Völkermord im ehemaligen Jugoslawien in „ethnischen Konflikten“ sehen würden. Mag sein, tatsächlich habe ich diese Formulierung vom „Aufbrechen ethnischer Konflikte“ aus den damaligen Nachrichtensendungen noch im Ohr.
Und offensichtlich hat sich das bei mir auch eingeprägt, jedenfalls zuckte ich spontan innerlich zusammen, als meine Tischnachbarin beim Frühstück sagte, sie käme aus „Belgrad, Serbien“. Ich war tatsächlich überrascht, denn hatte sie mir nicht gerade erst ausführlich die Vorzüge Bosniens geschildert und jede Menge wunderschöne Orten und historische Sehenswürdigkeiten aufgezählt, die ich unbedingt besuchen soll? In irgendeiner Ecke auch meines Gefühlshaushaltes muss sich wohl durchaus die Vorstellung festgesetzt haben, „Bosniaken“ und „Serben“ seien verfeindet.
In Bosnien selbst pflegt man, vor allem in Tourismusbroschüren, eher das Bild der seit Jahrhunderten etablierten Multikulti-Idylle, in die von außen her Streitigkeiten hineingetragen wurden (ich kenne aber auch eine Bosnierin, die das für Schönfärberei hält). Weitere Erklärungen für den Krieg, die ich in den vergangenen Tagen gehört oder gelesen habe, sind: Bäuerliche Landbevölkerung gegen international orientierte Städter, wirtschaftliche Ungleichheit, Nationalismus, oder noch allgemeiner: mafiöses Rowdytum.
Aber: Das alles erklärt keinen Krieg. Dass es in einer Gesellschaft Gruppierungen gibt, die in einem konflikthaften Verhältnis zueinander stehen, ist völlig normal. Das können Ethnien, Religionen, kulturelle Hintergründe, wirtschaftlicher Status, Hautfarbe oder sonstwas sein (man könnte im Prinzip auch die Geschlechter nennen, aber die waren außer im Science Fiction noch nie Anlass für einen Krieg, noch nicht einmal vorgeschobener, was ich durchaus interessant finde). Irgendwelche Differenzen gibt es immer. Solche Zugehörigkeiten sind natürlich sozial konstruiert und damit in gewisser Weise willkürlich. Aber darum sind sie ja nicht weniger real.

Konflikte und Differenzen, nicht nur zwischen Individuen, sondern auch zwischen sozialen Gruppierungen können sowohl kulturell konstruiert als auch selbst gewählt sein (etwa zwischen Parteien). Sie sind aber für sich genommen niemals Grund für einen Krieg, für eine gewalttätige, militärisch koordinierte Auseinandersetzung – es sei denn, man würde den Krieg für etwas halten, das untrennbar zum Menschsein dazu gehört. Viele machen das, ich aber nicht. Krieg ist nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, wie Clausewitz meinte. Krieg ist das Gegenteil von Politik.
Und deshalb finde ich es falsch, die Ursache von Kriegen mit irgendwelchen konflikthaften Differenzen zwischen Bevölkerungsgruppen zu erklären. Egal nun, welche Perspektive man dabei vorzieht, die „ethnische“, die „nationalistische“, die „kulturanthropologische“ oder die „marxistische“.
Die wahre Ursache von Krieg ist Verantwortungslosigkeit und Gedankenlosigkeit bei einer relevanten Anzahl beteiligter Menschen. Verantwortungslosigkeit auf Seiten derer, die Konflikte für unüberbrückbar erklären (und damit der Ebene des Politischen entziehen), weil sie sich entweder davon persönliche Vorteile erhoffen, eingebildete oder echte, oder weil sie in einer Mischung aus Arroganz und Dummheit tatsächlich an die von ihnen verbreiteten Ideologien glauben. Aber auch für die eigene Dummheit trägt man Verantwortung, denn Dummheit hat nichts mit fehlender Intelligenz oder Bildung zu tun. (Wie Hannah Arendt schon sagte: Gerade den deutschen Intellektuellen sind ungeheuer intelligente Dinge zu Hitler eingefallen.) Auch Dubravka Ugresic hat diesen Prozess in ihrem Buch „Kultur der Lüge“ geschildert.
Dazu kommt dann die Gedankenlosigkeit auf Seiten derer, die solche Propaganda nachplappern, daran glauben und sich „mobilisieren“ lassen, obwohl sie selbst am Ende mit hoher Wahrscheinlichkeit zu den Verlierern und Verliererinnen gehören. Wenn sich Verantwortungslosigkeit und Gedankenlosigkeit erst einmal ausgebreitet haben, gibt es immer auch irgendwelche Konflikte, die sich zu einer angeblichen Begründung heranziehen lassen. Aber nicht diese Konflikte selbst sind das Problem, sondern diejenigen, die mit ihrer Propaganda eine politische Bearbeitung der Konflikte unmöglich machen. Und mehr noch: In dem Konflikt als solchem das Problem zu sehen, bestätigt letztlich die Propagandisten des Krieges.
Gestern abend belauschte ich am Nachbartisch eine deutsche Reisegruppe, die sich darüber unterhielt, wie schrecklich und unvorstellbar es doch sei, dass es „mitten in Europa“ zu einem so schrecklichen Krieg gekommen ist. Ich finde das auch schrecklich. Aber nicht unvorstellbar. Wahrscheinlich steckt hinter dem Versuch, die Ursachen für „diesen Krieg“ auszumachen, auch die Hoffnung, selber vor „so etwas“ gefeit zu sein. Weil man ja die Probleme von „denen dort“ (etwa den ethnischen Balkan-Kuddelmuddel) nicht hat.
Ich würde mich da lieber nicht drauf ausruhen wollen. Verantwortungslosigkeit und Gedankenlosigkeit sind auch „bei uns“ keine Seltenheit. Und kaum einmal wird jemand dafür zur Rechenschaft gezogen.


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