
Vermutlich sind viele momentan deprimiert über die öffentlichen Diskussionen, die das Buch von Thilo Sarrazin ausgelöst hat. Ich habe versucht, so wenig wie möglich davon zur Kenntnis zu nehmen und will mich mit diesem Blogpost auch nicht daran beteiligen, sondern auf einen anderen Punkt hinaus.
Als Politikwissenschaftlerin interessiert beziehungsweise irritiert mich folgender Punkt: Dass es ein so eklatantes Auseinanderklaffen zwischen geisteswissenschaftlicher Forschung und Erkenntnissen und der tagesaktuellen Politik und politischen Debatte gibt.
Auf akademischer Seite haben wir jetzt ja einige Jahrzehnte Poststrukturalismus hinter uns, eine „Postmoderne“, die in inzwischen bibliothekenhaftem Umfang die alten modernen Gewissheiten über Subjekt und Gesellschaft aufgelöst und eigentlich ad acta gelegt hat: Die Möglichkeit etwa, Menschen in fixe Gruppen zu sortieren, die „Beweisbarkeit“ politischer Standpunkte anhand von Statistiken, das Ausgehen von „Identitäten“ auf Seiten politischer Akteur_innen und so weiter.
Dies hat aber offenbar den politischen Diskurs, so wie er sich in den dafür vorgesehenen Institutionen (Parteien, Parlamenten, Medien) abspielt, keineswegs verändert. Im Gegenteil, hier scheinen wir uns wieder immer mehr den Theorien und Ideen des 19. Jahrhunderts, also der klassischen Moderne, anzunähern: Es werden Kriege als Mittel der Politik legitimiert, man sucht die Ursachen sozialer Ungleichheit in einem schlechten Betragen „der Armen“ (wahlweise „der Ausländer“), die Komplexität menschlicher Differenzen werden wieder ganz banal stereotypisiert („der Islam“) und so weiter.
Inzwischen scheinen wir sogar an den Punkt zu kommen, wo tatsächlich auch die sozialpolitischen Maßnahmen des 19. Jahrhunderts (Arbeitszwang für Arme, Rassismus, malthusianische Bevölkerungspolitik, Biologismus) wieder diskussionsfähig werden.
Die italienische Journalistin Ida Dominijanni nennt dieses Phänomen das „Schielen” unserer Epoche: Auf der einen Seite sind moderne Gewissheiten, selbstherrliche Subjekte, der Glaube an Gott, Gesetz und Vaterland in den Geisteswissenschaften längst ad acta gelegt, und massenweise Bücher und Studien erklären, warum das so sein muss. Im Bereich von Politik und Mediendiskurs hingegen sind diese Kräfte ungebrochen am Werk und werden sogar gefeiert. Ganz offensichtlich interessiert es dort gar nicht, dass sie wissenschaftlich längst dekonstruiert worden sind.
Dominijanni findet, dass es zwischen beidem einen inneren Zusammenhang gibt: „Je gespaltener, differenzierter, aufgelöster und postmoderner das Subjekt auftritt, umso mehr erscheint es innerhalb eines demokratischen Horizonts, der zu einer Art unanfechtbarem Apriori erhoben wird, wenn nicht gar zu einer unbestreitbaren Religion, im alten Gewand der Individualität, der Rechte, der Repräsentation und der modernen Gleichheit.” (mehr dazu hier)
Die Rückkehr des überwunden geglaubten Weltbildes der Moderne hinge also nicht einfach mit der Dummheit der Leute, mit der Banalität des Medendiskurses und instrumentellen Machtstrategien zusammen. Oder, auf den aktuellen Diskurs bezogen: Es geht nicht darum, dass „Wir“ (die postmodern Aufgeklärten sozusagen) irgendwie machtloser und benachteiligt sind gegenüber „Denen“ (den bösen Sarrazins und denjenigen, die Leuten wie ihm ein Forum bieten, wenn auch im Gewand der angeblichen kritischen Auseinandersetzung). Sondern möglicherweise liegt das ganze Schlamassel auch mit an „uns“.
Ich habe darauf noch keine wirklichen Antworten, sondern nur einige vorläufige Ideen. Eine wäre, dass sich der postmoderne akademische Diskurs zwar inhaltlich, nicht aber methodisch von dem verabschiedet hat, was die Moderne als „Wissenschaftlichkeit“ definierte: Die Fixierung auf Zahlen und allgemeingültige Beweise. Man beschränkte sich darauf, noch eine Studie und noch eine Studie zu schreiben, statt die Aufmerksamkeit auf die Frage zu lenken, wie überhaupt politische Vermittlungsarbeit funktioniert.
Außerdem läuft postmoderne Geisteswissenschaft tatsächlich oft Gefahr, eine Art Relativismus zu propagieren: Wenn alles nur Diskurs ist, gibt es keinen realen Maßstab mehr für das politische Handeln in der Welt (wie früher Gott oder dann die Vernunft), sondern nur viele Verschiedene, die alle irgendwie Recht haben. Stimmt das?
Ich finde hier die Unterscheidung von Luisa Muraro zwischen Relativität und Relativismus sehr hilfreich. Sie schreibt (wie ich bereits in meinem Burka-Blogpost zitierte): „Es ist äußerst notwendig, zwischen Relativismus und Relativität zu unterscheiden: Relativismus bedeutet, die Suche nach dem universalen Wahren und Richtigen aufzugeben, weil man glaubt, alle möglichen Antworten seien abhängig von Kulturen (oder Standpunkten oder Interessen), also historischer Natur und damit veränderbar, und keine könne sich als den anderen überlegen betrachten. Die Relativität hingegen, als Gedankengebäude und vor allem als geistige Einstellung, kann als ein unvorhergesehener Sieg über den Relativismus betrachtet werden. Dieser Sieg wird errungen und bildet sich heraus, indem man Vermittlungen sucht, um von dem einen zum anderen Standpunkt zu kommen.“
Anders gesagt: Es gibt zwar das „Wahre“ nicht in dem Sinne, dass es objektiv Schiedsrichter sein könnte über die Differenzen der Menschen (so wie es sich die Moderne vorstellte), das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass alles einfach nur relativ ist und alle irgendwie Recht haben. Rücken wir die Beziehungen zwischen konkreten Menschen ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit, dann kann das „Wahre“ als Maßstab eine Rolle spiele, an dem sich ihr Diskurs orientiert. Im Alltag ist mir das sehr hilfreich: Diskutieren andere Leute mit mir, weil sie wirklich daran interessiert sind, „die Wahrheit“ zu finden (wenn wir auch darüber, was das ist, unterschiedliche Ansichten haben)? Oder verfolgen sie damit nur egoistische oder instrumentelle Zwecke? Das ist meines Erachtens die entscheidende Frage.
Ich finde ja übrigens, dass es einen Themenkomplex gibt, der sich dieser negativen Dynamik teilweise entzieht, und das ist der Feminismus. Auch hier sind natürlich dieselben Entwicklungslinien von „modernem“ zu „postmodernem“ Denken zu beobachten, aber das „Schielen“ scheint mir hier doch weniger krass zu sein, als bei anderen politischen Themen.
Ich denke, das hat auch damit zu tun, dass der Feminismus eben nie nur eine Theorie war, sondern immer auch eine Praxis – die Praxis der Frauenbewegung als politische Größe, aber auch die Praxis der einzelnen Frauen. Und politische Praxis ist immer Vermittlungsarbeit in einer konkreten Situation. Zwar gibt es auch hier ein Auseinanderdriften zwischen akademischem Diskurs und Alltagsleben zu beklagen, aber immerhin wird das offen kritisiert, die Akademikerinnen werden von politischen Feministinnen angefragt, frau lässt sie in ihrem Elfenbeinturm nicht einfach so in Ruhe. Also: Das Problem besteht zwar, aber es ist immerhin auf der Agenda.
Mir würde gefallen, wenn es auch im Hinblick auf andere Themen auf die Agenda käme und sich das Sarrazin-Desaster nicht auf einen bloßen Schlagabtausch beschränkte. Konkret: Ich halte es zwar für falsch, mit Sarrazin zu diskutieren (und problematisch, dass die Leitmedien ihm dieses Forum geben). Es ist aber notwendig, mit den Menschen zu diskutieren, die in seinen „Denkanstößen“ Plausibles finden. Und zwar auf eine Weise mit ihnen zu diskutieren, die nicht versucht, ihnen wissenschaftlich zu „beweisen“, dass sie unrecht haben und dumm sind, sondern so, wie Luisa Muraro es vorschlägt: „Übersetzungen zu suchen zwischen dem, was ich in erster Person lebe, weiß, fühle in etwas, das der/die andere verstehen kann, weil es dem, was er oder sie weiß, fühlt, lebt ähnlich ist oder darauf eine Antwort bietet, indem ich zugehört habe, als er/sie versucht hat, mir die Bedeutung seiner/ihrer Erfahrungen zu erklären.“


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