
Ich bin ja wirklich kein Fan von Alice Schwarzer, und weil das inzwischen allgemein bekannt sein dürfte, kann ich es vielleicht wagen, sie jetzt mal an einem Punkt zu verteidigen. Einfach weil mir ein Argument, das ich derzeit häufig gegen ihren Einsatz als Prozessbeobachterin im Fall Kachelmann höre, überhaupt nicht einleuchtet.
Dieses Argument lautet, sie würde feministisch voreingenommen an den Prozess herangehen und eine der wichtigsten Regeln der Demokratie missachten, nämlich die, dass Menschen, die eines Verbrechens beschuldigt werden, solange als unschuldig zu gelten haben, bis sie rechtskräftig verurteilt sind.
Mich interessiert dabei überhaupt nicht der Fall Kachelmann, bei dem ich die Fakten nicht kenne und zu dem ich daher auch keine Meinung habe. Mich interessiert lediglich der grundlegende Tenor des Arguments, das ich für falsch halte: Es ist nämlich, gerade in einer Demokratie (aber vor allem einfach auch so generell), durchaus sehr wohl möglich, jemanden für schuldig zu halten, obwohl kein Gericht ihn rechtskräftig verurteilt. Einfach deshalb, weil es schlicht und ergreifend auch möglich ist, dass Gerichte Leute nicht rechtskräftig verurteilen, obwohl sie schuldig sind (und, was noch schlimmer ist, auch andersrum).
Die Gründe dafür können vielfältig sein: Eine Handlung wird nach den derzeit herrschenden Gesetzen nicht als Verbrechen eingeordnet, obwohl ich der Meinung bin, dass sie durchaus eines ist. Oder: Jemand ist zwar schuldig, das Gericht kann aber nicht ausreichend Beweise beschaffen. Oder: Das gesellschaftliche Klima im Bezug auf das Thema, das hier verhandelt wird, ist voreingenommen.
Gerade im Bezug auf Vergewaltigungen ist es ja noch nicht allzu lange her, dass erzwungener Sex nicht als Verbrechen galt, sondern als normale Angelegenheit. Und es ist auch noch nicht allzu lange her, dass die Gerichte hier tatsächlich voreingenommen verhandelten und entschieden. Es ist der Frauenbewegung zu verdanken, dass sich diesbezüglich in den letzten Jahrzehnten vieles zum Besseren verändert hat. Aber das war nur möglich, weil viele Leute (Alice Schwarzer war eine davon) darauf bestanden haben, dass Vergewaltiger Verbrecher sind, obwohl Gesetz und Polizei das anders sahen.
Das heißt natürlich nicht, dass Schwarzer auch im vorliegenden Fall Recht hat. Alles, was ich sagen will ist, dass das rechtliche Konstrukt der Unschuldsvermutung in dem Zusammenhang kein gutes Argument ist.
Viel grundsätzlicher frage ich mich aber auch, warum solche „Beispielfälle“ überhaupt dieses öffentliche Echo haben (und nur deshalb kann Schwarzer ja so viel Aufmerksamkeit bekommen). Schließlich kann wahrscheinlich kaum jemand ein begründetes Urteil im Bezug auf die Schuld oder Unschuld von Kachelmann fällen. Wir sind doch alle darauf angewiesen, was die Medien schreiben. Aber, was noch viel wichtiger ist: Es ist eigentlich auch schnurzpiepegal, was wir alle im Bezug auf Kachelmann für Meinungen haben.
Solche mediengehypten „Fälle“ lenken uns letztlich von dem ab, was eigentlich unsere Aufgabe wäre: Nämlich in den „Fällen“, mit denen wir selbst tatsächlich etwas zu tun haben, ein Sensorium für Schuld und Unschuld zu entwickeln. Also begründete Urteile zu fällen über das, was die Menschen um uns herum (inklusive uns selber) tun und lassen.
Die allermeisten dieser „Fälle“ kommen nie vor Gericht, weil sie sich weit unterhalb der juristischen Ebene abspielen. Und in den allermeisten dieser „Fälle“ hilft uns auch keine Gesetzeslage weiter. Im Gegenteil: Meistens ist es gerade nicht möglich, Konfliktfälle, die sich uns im realen Leben stellen, anhand von abstrakten „Gesetzen“ und in den überlieferten Kategorien von Schuld und Unschuld zu lösen. Die „Absehung von der Person“ ist meistens keine gute Idee, denn es geht hier um Beziehungen, in denen es gerade auf die beteiligten Personen ankommt. Und statt uns eine Augenbinde umzubinden, wie Justizia, ist es vielmehr notwendig, genau hinzusehen, um eine gute Lösung zu finden.
Genau das ist Politik, und nur die kleine Spitze dieses Eisberges wechselt irgendwann auf die juristische Ebene – nämlich dann, wenn es uns nicht gelingt, eine gute Lösung zu finden. Wenn uns also nichts anderes übrig bleibt, als Justizia anzurufen, die keine „richtigen“ Urteile fällt, sondern nur solche, die formal „gerecht“ sind. Und nur eine noch viel kleinere Spitze davon schafft es, mediale Aufmerksamkeit zu bekommen.
Das sollte uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese anderen „Fälle“, von denen unser alltägliches Leben voll ist, die eigentlich wichtige Angelegenheit sind. Hier, in diesen „Verhandlungen“ wird der Grundstein für unsere Kultur gelegt, wird um Wesentliches gerungen, passieren gesellschaftliche Veränderungen und modifizieren sich überkommene Auffassungen über Recht und Unrecht. Und vielleicht münden die dann irgendwann, viel, viel später, auch in ein neues Gesetz oder in die Abschaffung von alten.
Auch hier, im Alltag, ist die „Unschuldsvermutung“ übrigens eine gute Idee. Aber sie hat nur dann einen Sinn, wenn wir sie nicht als formale Angelegenheit verstehen, sondern darin eher so etwas wie eine Haltung sehen, die sich bemüht, die anderen zu verstehen, sich in ihre Lage zu versetzen, die Angelegenheit auch aus ihrer Perspektive zu betrachten, bevor man sich ein Urteil darüber erlaubt. Und vor allem haben diese Verhandlungen im Alltag auch Konsequenzen für mich selbst und mein Handeln (weshalb Urteile auch etwas völlig anderes sind als bloße Meinungen).
Und wenn ich dann zu einem solchen eigenen Urteil komme, einem Urteil, das begründet ist, weil ich mich mit den Fakten so gut wie möglich vertraut gemacht habe, weil ich die Gegenseite gehört habe, das Für und Wider abgewogen – dann ist dieses Urteil, wenn es gut ist, normalerweise gerade nicht einfach von abstrakten Maximen abgeleitet worden. Es ist auch nicht so ohne weiteres verallgemeinerbar (wie es die Logik von „Recht und Gesetz“ vorsieht), sondern eine verantwortliche Einzelfallentscheidung, die der Komplexität des Lebens Rechnung trägt. Diesem unserem subjektiven und verantwortlichen Urteilen im Alltag sollte unser Engagement und unsere Aufmerksamkeit gelten, nicht irgendwelchen stereotyp abgewickelten und medial inszenierten Gerichtsfällen.
Ich kann es auch anders sagen: Jeder mittelmäßige Krimi und jeder häusliche Familienstreit haben mehr mit Politik zu tun, als diese Kachelmann-Debatten.


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