
Bei den gängigen Debatten um Privatsphäre im Internet und ob man sie besser schützen muss oder ob man sich in den Kontrollverlust ergeben soll, den die Verfügbarkeit aller möglichen Informationen mit sich bringt, frage ich mich oft, ob diese Gegenüberstellung überhaupt so stimmt. Und warum es mir eigentlich so wenig ausmacht, wenn andere plötzlich alles Mögliche über mich wissen können.
Heute kam ich auf den Gedanken, dass das vielleicht etwas damit zu tun hat, dass ich auf einem Dorf aufgewachsen bin. Denn dadurch ist mir die Erfahrung von klein auf vertraut, dass andere Sachen über mich wissen und daraus Schlüsse ziehen, die unter Umständen negative Folgen für mich haben.
Einer der Standardsätze meiner Mutter war: Was sollen denn die Nachbarn sagen! Wenn es bei uns zuhause Krach gab, wurden erstmal die Fenster zugemacht, damit auch ja nichts davon nach außen dringt. Wenn ich mit Hippieklamotten (oder was ich als Pubertierende Ende der 1970er Jahre dafür hielt) aus dem Haus ging, wurde ich zurückgepfiffen. Das könnte doch einen negativen Eindruck hinterlassen.
Damals fand ich das übertrieben und warf meiner Mutter Heuchelei vor: Wenn wir uns streiten, ist doch unser Streit das Problem und nicht, was die Leute vielleicht reden. Und darf ich mich nicht anziehen, was ich will? Ist mir doch egal, was die Leute denken.
Heute verstehe ich besser, warum es meiner Mutter so wichtig war, nach außen hin keine Schwachstellen zu zeigen. In der engen Atmosphäre eines Dorfes bestand ja tatsächlich immer die Gefahr, dass „die Leute“ anfingen zu reden. Hintenrum natürlich. Wir redeten ja auch über die Leute. Über die Familie F., die „Assoziale“ waren. Über das Ehepaar X, das bestimmt kurz vor der Scheidung stand. Über Hinz und Kunz eben.
Dass Menschen um ihr öffentliches Ansehen besorgt sind, dass sie versuchen, eine möglichst gute Fassade abzugeben, dass sie sich bemühen, vor anderen in einem guten Licht zu erscheinen, kam nicht erst mit den Möglichkeiten der Selbstdarstellung im Internet auf. Die Gefahr, den eigenen guten Ruf zu verlieren, war schon immer nur allzu real und unglaublich groß.
Der Unterschied ist nur: Früher hatte man kaum Einfluss darauf, was „die Leute redeten“. Man bekam es nämlich nicht mit. Dorfklatsch über eine Person konnte die Runde machen, ohne dass die Betreffende überhaupt etwas davon erfuhr. Und er konnte gravierende Folgen haben. Kein Wunder also, dass alle sich anstrengten, möglich nichts Zweifelhaftes nach außen dringen zu lassen. Kein Wunder, dass alle unschönen Dinge hinter verschlossenen Türen, der hoch gelobten Privatsphäre, eingesperrt blieben.
Eine „Privatsphäre“ zu haben in der Bedeutung eines Schutzraumes, der missgünstigen Nachbarn oder einfach klatschsüchtigen Menschen verschlossen blieb, war damals existenziell wichtig. War nämlich das Gerücht erst einmal in der Welt, war es schwer bis unmöglich, es wieder einzufangen.
Und diese Privatsphäre war sehr eng umrissen und ständig in Gefahr. Als Jugendliche habe ich das so erlebt, dass ich faktisch gar keine Privatsphäre hatte. Im Dorf wurde alles, was ich tat, ganz genau unter die Lupe genommen. Wenn ich mit einem neuen Freund Händchen hielt, wusste das am nächsten Tag jeder. Und es blieb überhaupt nicht bei dieser bloßen Information. Spekulationen fingen an: Wer das wohl sei und was das bedeuten sollte. Mit jeder noch so kleinen sichtbaren Information, die ich von mir preis gab, riskierte ich einen Rattenschwanz an Gerüchten und Meinungen über mich. Keine Spur von irgendeiner Kontrollmöglichkeit.
Der einzige Ausweg, der da blieb, war: Schotten dicht machen. Mit neuen Freunden nur in der nächsten großen Stadt Händchen halten. Bücher zweifelhaften Inhalts lieber nicht in der Buchhandlung vor Ort kaufen, sondern anderswo. Heute habe ich das nicht mehr nötig. Nicht nur, weil ich inzwischen in der Stadt wohne. Sondern weil ich die Möglichkeit habe, mein öffentliches Profil selbst zu gestalten. Schlechte Nachrede ist heute viel schwieriger geworden als damals.
Meine Privatsphäre habe ich natürlich weiterhin. Allerdings nicht mehr als Bollwerk gegen die tendenziell böse Welt da draußen, sondern eher als einen Ort, wo ich mit vertrauten Menschen Sachen austausche, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Die niemanden etwas angehen. Diesen Raum braucht es. Aber er ist auch durch das Internet überhaupt nicht in Gefahr. Was mich und mein Privates ausmacht, so ist das so reichhaltig und komplex, dass man doch nicht ernsthaft glauben kann, ich würde mich mit zehn Tweets und drei Facebook-Updates am Tag vor der Öffentlichkeit „entblößen“. Es gibt so unvorstellbar viel mehr über mich zu wissen als das, was im Internet nachzulesen ist.
Ich erlebe es jedenfalls so, dass meine Privatsphäre durch die neue Transparenz, die mit dem Internet gegeben ist, eher besser geschützt ist als früher. Ich habe sie nämlich selbst zum großen Teil unter Kontrolle. Ich kann so viel von mir öffentlich preisgeben, dass Spekulationen über meine Person der Boden entzogen wird. Und außerdem kriege ich es heute mit großer Wahrscheinlichkeit mit, wenn jemand schlecht von mir redet – oder auch einfach nur falsch. Ich kann gegebenenfalls eingreifen und versuchen, das schiefe Bild zurecht zu rücken. In der Fülle von Informationen, die es über mich im Internet gibt, und die zum größten Teil von mir selber stammen, kann sich jeder eine eigene Meinung zu meiner Person machen. Niemand ist dabei auf Enthüllungen angewiesen, die andere hinter vorgehaltener Hand über mich machen.
Ich finde, das ist Kontrollgewinn, nicht Kontrollverlust.


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