In meinem Kopf haben sich in den letzten Tagen zwei Themen vermischt, die sich auf einem kleinen sonnigen Spaziergang heute Nachmittag zu einer Idee verdichteten: die Guttenberg-Geschichte auf der einen Seite, und die diesjährige Fastenaktion der evangelischen Kirche „Sieben Wochen ohne Ausreden“, über die ich noch einen Artikel schreiben muss, auf der anderen Seite.
Ich hatte eigentlich geplant, den Artikel zum Thema „Ausreden“ von einer persönlichen Seite her aufzuziehen. Also mich selbst dabei zu beobachten, wo ich irgendwelche Ausreden vorschiebe, in so kleinen Alltagsdingen, und daraus eventuell irgendwelche Erkenntnisse über das Phänomen zu ziehen. Allein: Eine Woche lang beobachtete ich mich, aber mir sind meinerseits keine Ausreden untergekommen.
Als ich heute morgen in der Redaktionskonferenz davon berichtete, brachte ich das auf das spontane Resumee „Wahrscheinlich mache ich einfach nichts Böses.“ Woraufhin die übrige Redaktion verständlicherweise in schallendes Gelächter ausbrach.
Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, dass solch spontanen Sätze, die ich manchmal unüberlegt sage (was natürlich nur in einer vertrauensvollen Atmosphäre geht, also nicht in Parlamentsdebatten oder Pressekonferenzen zum Beispiel), meistens irgend einen wahren Kern enthalten, der in der Situation selbst noch nicht ganz zu erfassen ist.
Beim Nachdenken ist mir aufgefallen, dass meine Ausredenlosigkeit keineswegs immer schon so war. Als Jugendliche war ich eine Meisterin der Ausreden. Den Klassiker kennen wahrscheinlich alle: Man kommt später als von den Eltern erlaubt nach Hause und behauptet, das Auto wäre kaputt gegangen. Man vermasselt eine Klausur und gibt als Grund an, die gestellten Fragen wären im Unterricht ja nie durchgenommen worden. Solche Sachen.
Meine Idee ist nun Folgende: Ausreden sind kein moralisches Versagen, sondern ein Hinweis darauf, dass man in einem System lebt, dessen Regeln man nicht anerkennt, die man aber auch nicht ändern kann. Zum Beispiel die von den Eltern vorgegebene Regel, um eine bestimmte Uhrzeit nach Hause kommen zu müssen. Oder die Regel, zu einem gewissen Zeitpunkt eine bestimmte Anzahl von Vokabeln gelernt haben zu müssen.
In diesem Fall sind Ausreden sozusagen ein Mittel der Selbstverteidigung: Ich vermeide damit einen Konflikt, den ich eh nicht gewinnen kann, zum Beispiel, weil diejenigen, die die Regeln aufstellen, auch gegen meinen Willen von mir verlangen können, dass ich mich daran halte. Eltern zum Beispiel. Oder die Herrschenden. In einer solchen Situation habe ich nur zwei Möglichkeiten: Entweder mich den Regeln der anderen zu unterwerfen. Oder mich rausreden, damit ich trotz meiner Ohnmacht das tun kann, was ich tun will und für richtig halte.
Was ist aber, wenn Erwachsene Ausreden erfinden? Menschen, die durchaus einen gewissen Einfluss haben? Dann liegt der Fall anders. Sie müssen sich dann fragen, warum sie eigentlich weiterhin in dieser Heuchelei leben. Warum sie sich Reglements unterwerfen, deren Bedingungen sie selbst nicht einhalten können – was doch immer ein guter Hinweis darauf ist, dass mit den Reglements etwas nicht in Ordnung ist. Warum sie zu bequem sind, die damit verbundenen Konsequenzen zu tragen.
Eine naheliegende Antwort ist natürlich: Weil sie einfach ohne große Anstrengung bestimmte Vorteile für sich einheimsen wollen. Weil sie die Regeln, obwohl sie sie gar nicht teilen, trotzdem zu ihrem Vorteil nutzen wollen. Aber das ist der eher banale, wenn auch nicht seltene Fall.
Ich meine das aber eigentlich gar nicht moralisch. Ich denke schon, dass die Ausrede auch im Erwachsenenalter immer eine Option ist: Vielleicht ist mir die Sache nicht wichtig genug, um mich an diesem Punkt zu verkämpfen, oder ich habe wirklich so beschränkte Möglichkeiten, dass ein Kampf an dieser Stelle aussichtslos wäre, oder ich bin zu ängstlich. Alles Erklärungen, die durchaus in einer bestimmten Situation in Ordnung sein können. Wichtig ist nur, dass man sich diese Fragen stellt und eine ehrliche Antwort findet. Und zwar ist es nicht aus einem moralischen Grund wichtig, sondern vor allem im Hinblick auf das eigene Glück.
Ich glaube, mein persönlicher „Trick“, der mir ein weitgehend ausredenfreies Leben ermöglicht, liegt darin, dass ich einfach keine Regeln anerkenne, die ich falsch finde. Dass ich es im Zweifelsfall eher zu einem Konflikt kommen lasse, als mich in Lügen und Ausreden zu verstricken, was ja eine sehr anstrengende Angelegenheit ist (zum Beispiel muss man sich immer daran erinnern, was genau denn die Ausrede war, in die man sich geflüchtet hat, um sich nicht laufend in Widersprüche zu verstricken).
Das braucht allerdings ein paar Voraussetzungen. Die erste Voraussetzung ist, dass man bereit ist, die Konsequenzen zu tragen. Wenn ich etwa die Regeln, die in einem bestimmten System gelten, nicht akzeptiere, kann ich in diesem System keine maßgebliche Rolle spielen. Ich muss also zum Beispiel auf die Privilegien verzichten, die mit der Teilhabe an dem systemimmanenten Status verbunden sind. Die zweite Voraussetzung ist, dass man Konflikte auszutragen bereit ist und unter Umständen auch in Kauf nimmt, dass Beziehungen daran auseinander gehen.
Natürlich muss ich in einer komplexen Gesellschaft akzeptieren, dass es Regeln gibt, die ich für falsch halte, ohne dass ich sie ändern könnte oder die Möglichkeit hätte, meine Beziehung zu jenen, die diese Regeln aufgestellt haben, zu lösen. Ich kann ja nicht aus der Gesellschaft austreten.
Aber was immer eine Möglichkeit ist, ist das, was Luisa Muraro „symbolische Unabhängigkeit“ nennt: Ich weiß, dass die anderen um mich herum bestimmte Regeln aufgestellt haben, ich weiß aber auch, dass ich diese Regeln nicht teile, und dass ich darum drei Möglichkeiten habe – eben die Anpassung, den Konflikt oder die Ausrede. Symbolische Unabhängigkeit ist, wenn mir diese Möglichkeiten bewusst sind und ich sie mir klar mache.
Meine symbolische Unabhängigkeit als Frau, die in einer Gesellschaft lebt, in der das Patriarchat zwar nicht mehr fest im Sattel sitzt, aber doch noch so einige Ausläufer hinterlassen hat, verdanke ich zum Beispiel der Frauenbewegung. Das hört sich vielleicht theoretisch an, ist es aber nicht.
Ein sehr klares Beispiel ist Folgendes: Als Jugendliche hatte ich Angst, schwanger zu werden. Ich hatte ja schließlich gelernt, dass das die größte Katastrophe ist, die einer Frau passieren kann, dass dann mein ganzes Leben versaut wäre und ich eine ehrlose Schlampe und so weiter und so fort, und unweigerlich hatte ich jedes Mal richtig richtig Angst, wenn meine Tage mal ein paar Tage zu spät einsetzten.
Bis dann die Frauenbewegung kam, und ich ein paar Dinge lernte: Zum Beispiel, dass ich im Falle eines Falles ja abtreiben könnte. Oder dass es andere Frauen gibt, die mir in dann beistehen würden, praktisch und „symbolisch“, die mich nicht für eine Schlampe halten würden sondern weiter meine Freundinnen blieben. Indem ich lernte, dass so eine ungewollte Schwangerschaft zwar trotzdem eine blöde und ärgerliche Sache wäre, aber nichts Existenzielles, nichts, das man nicht überleben könnte, nichts, das meinen Wert als Menschen beeinträchtigen würde. Von dem Moment habe ich keine Angst mehr gehabt.
Diese Veränderung ist passiert, und sie war real, obwohl sich äußerlich, an den gesellschaftlichen Strukturen, noch gar nichts verändert hatte. Die hauptsächliche Veränderung war in meinem Kopf passiert, und in meinen konkreten Beziehungen. Die einen Leute und was sie sagten, waren für mich unwichtig geworden, sie hatten ihre Autorität verloren. Denn es waren andere Leute, die etwas anderes sagten, für mich wichtig geworden, sie waren es, denen ich nun Autorität zusprach. Ich hatte sozusagen die Regeln verändert, mich in eine andere „symbolische Ordnung“ einsortiert – mit der Folge, dass ich im Falle einer Schwangerschaft keine Ausrede mehr gebraucht hätte.
Auch dann bleiben natürlich die Konflikte, die Schwierigkeiten, die Ungerechtigkeiten, die Widrigkeiten. Aber sie sind nicht mehr mit Scham, mit Selbstzweifeln, mit Angst verbunden.
Das Interessante an den Ausreden ist daher meiner Ansicht nach nicht, ob sie eine moralische Verfehlung anzeigen. Sondern dass sie ein Hinweis darauf sind, dass diejenigen, die sie brauchen, nach den Regeln der anderen leben – und nicht nach den eigenen.
Und arm dran sind dann eben die, denen das nicht einmal klar ist.


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