
Die gegenwärtigen Diskussionen über Klarnamen finde ich interessant. Jenseits von kurzen Positionierungen pro oder contra berühren sie nämlich ein Thema, das die Produktion von Kultur betrifft und das durch das Internet sehr im Umschwung ist: Die Frage, auf welche Weise Texte/Werke mit der Person verknüpft sind, die sie geschaffen hat.
Dass Texte unabhängig von ihren Urheber_innen existieren (das ist ja letztlich das Konzept der Anonymität) ist überhaupt nicht neu. Es ist das Prinzip der Schriftlichkeit schlechthin. Lange Zeit wurde bei Büchern nur selten drunter geschrieben, wer der Autor ist, weil man „Urheberschaft“ gar nicht für wichtig hielt. Sehr häufig wurde auch ein falscher oder ein erfundener Name drunter geschrieben: Sei es, dass jemand Briefe schrieb und sie als die des Apostel Paulus ausgab, um ihnen mehr Gewicht zu verleihen, sei es, dass Frauen unter Männernamen publizierten, weil sie nur so eine Chance hatten, überhaupt gelesen zu werden, sei es, dass in den Texten etwas Verbotenes oder Herrschaftskritisches stand und man nicht gerne dafür ins Gefängnis kommen wollte.
Und selbst, wenn der Name unter publizierten Text drunter stand, war der Autor, die Autorin für die meisten Lesenden unendlich weit weg: Man konnte schließlich Kant nicht mal eben kurz eine E-Mail schreiben, wie genau er das mit der Kritik der reinen Vernunft nochmal gemeint hatte.
Dies war lange Zeit ein kategorialer Unterschied zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache: Mündliche Sprache findet zwischen zwei (oder mehr) Menschen statt, die sich mit ihren Körpern gleichzeitig im selben Raum befinden. Sie ist direkt, Austausch, Beziehung. Mit der Erfindung der Schrift wurde die Sprache jedoch von den Körpern und von den Beziehungen gelöst und auf einem Medium fixiert, das unabhängig von diesen Körpern in der Welt zirkulierte. Diese Unterscheidung zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit wird durch das Internet tendenziell aufgehoben – und das ist eine enorm interessante Entwicklung.
Es gibt eine sehr lange Debatte über das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, und um die Frage, inwiefern sich Inhalte dadurch verändern, dass sie nicht mehr gesprochen, sondern aufgeschrieben werden. Die bekannteste Auseinandersetzung mit diesem Thema stammt von Platon, der in seinem Dialog Phaidros vier Einwände gegen die Schrift vorbringt. Es ist interessant, sie vor dem Hintergrund des Internet Revue passieren zu lassen.
Sein erster Punkt besagt, dass die Schrift „in die Seelen der Lernenden Vergessenheit einflößen, durch Vernachlässigung der Erinnerung.“ Die Schrift macht uns vergesslich, denn was geschrieben steht, muss nicht erinnert werden. Schon Hannah Arendt hat aber darauf hingewiesen, dass genau das auch eine Stärke des Schreibens ist: Auf die Frage, warum sie überhaupt Bücher schreibt, antwortete sie: Damit ich nicht vergesse, was ich einmal gedacht habe. Genauso geht es mir auch. Und im Internet kann ich sogar vergessen, wo genau ich das, was ich mal gedacht habe, hingeschrieben habe: Ich kann es ja googeln. Also: Ja, die Schrift macht vergesslich – so what?
Der zweite Punkt, den Platon gegen die Schrift vorbringt, ist, dass sie, „wenn man sie etwas fragt, würdevoll schweigt“: Ein Text gibt mir keine Auskunft, sondern wiederholt nur stur immer dasselbe. Wenn ich das nicht verstehe, habe ich Pech gehabt. Das Internet ist nun dabei, dieses Defizit auszumerzen: Auch wenn jemand etwas nicht mir persönlich gesagt, sondern ins Internet geschrieben hat, kann ich direkt bei ihr nachfragen. Wozu gibt es Twitter oder die Kommentarfunktion. Oder meinetwegen auch E-Mail.
Als dritten Punkt nennt Platon die Befürchtung: „Wenn aber einmal etwas geschrieben ist, treibt sich jedes Wort überall herum, gleichermaßen bei den Verstehenden wie auch bei denen, für die es sich nicht gehört, und weiß nicht, zu wem es reden soll und zu wem nicht.“ Schriftliche Zitate können aus dem Zusammenhang gerissen und völlig falsch interpretiert werden. Allerdings: Im Internet ist das nicht mehr so problematisch. Wer Zitate von mir aus dem Zusammenhang reißt, kann sich nicht mehr darauf herausreden, dass das eben in diesem Buch so gestanden hätte. Und selbst, wenn jemand zu faul ist, um sich ein differenzierteres Bild von dem, was ich gemeint habe, zusammenzugoogeln oder mich direkt zu fragen, besteht immer noch die Chance, dass jemand anderes das tut (jemand, die mich kennt zum Beispiel), und das in den Kommentaren richtig stellt.
Das führt direkt zu Platons viertem Punkt, wenn er schreibt: „Wird sie (also die Schrift) aber beleidigt und ungerecht geschmäht, braucht sie immer des Vaters Hilfe. Selbst nämlich kann sie sich nicht schützen noch helfen.“ Auch das ist heute nur noch eingeschränkt wahr: Denn erstens ist die Verfasserin oder der Verfasser niemals ganz weg vom Text, sondern hockt gleich hinter dem nächsten Link. Und zweitens haben Texte heute ganz viele Beschützerinnen und Beschützer – nämlich all diejenigen, die sie sich selbst angeeignet haben. Und die sitzen heute eben nicht isoliert voneinander jede am eigenen Schreibtisch, sondern sie können jederzeit miteinander diskutieren.
All diese Veränderungen lassen sich auf einen Punkt zurückführen: Die kategoriale Trennung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit wird im Internet wieder aufgehoben. Zwar werden Inhalte auf Medien fixiert und zirkulieren losgelöst von den Körpern ihrer Urheberinnen, aber bei Bedarf kann man auf die Autorin oder den Autor zurückgreifen. Die Trennung ist nicht mehr absolut, wir können zwischen schriftlicher und mündlicher Kommunikation hin- und herswitchen. Zum Beispiel, wenn Ihr diesen schriftlichen Text hier jetzt lest und wir anschließend in den Kommentaren darüber diskutieren.
Welche positiven Chancen stecken nun in dieser Entwicklung?
Ich denke, um das zu verstehen, müssen wir uns erst einmal wieder auf die Besonderheiten der Mündlichkeit besinnen. Die haben wir nämlich in der Vergangenheit ziemlich vernachlässigt. Unsere Kultur schätzt das geschriebene Wort symbolisch viel höher ein als das gesprochene. Dabei ist das Sprechen die erste und wichtigste Kulturtechnik, die wir lernen. Sprechen können ist die Voraussetzung für alles.
Sprechen ist riskant, denn Sprache ist niemals eine exakte Abbildung der Wirklichkeit, sondern es gibt immer einen Spielraum. Das heißt, das Wort muss erst noch mit der Realität verknüpft werden: Wie funktioniert das, dass kleine Kinder sprechen lernen?
Würde zum Beispiel eine Mutter, die ihrem Kind den Sinn des Wortes „Stuhl“ erläutern möchte, Definitionen suchen, würde es kompliziert: Ein Stuhl ist ein Möbelstück mit vier Beinen, einer Sitzfläche und unter Umständen einer Lehne. Vielleicht hat er aber auch nur drei oder sogar fünf Beine, und die Lehne kann manchmal auch fehlen. Kein Kind würde das kapieren.
Stattdessen sagt sie: „Das hier ist ein Stuhl.“ Sie bindet das Wort also an eine Realität, die das Kind vorfindet und die es betrifft. Kein Lexikon und kein Google garantiert für die Richtigkeit ihrer Worte, sondern sie mit ihrer Person. Das Kind lernt, dass das hier ein Stuhl ist, nicht, weil es ein abstraktes Konzept verstanden hat, sondern weil es der Mutter glaubt.
Damit das Sprechen funktioniert und Worte nicht nur Worte bleiben, sondern einen Sinn bekommen, ist also nicht nur wichtig, was gesagt wird, sondern auch wer es sagt und zu wem und in welcher konkreten Situation – und zwar nicht nur zwischen Kindern und Eltern, sondern auch später, zwischen Erwachsenen. Autorität entsteht, wenn das Wort einer anderen oder eines anderen mir einen Sinn in der Welt erschließt. Das wissen wir doch alle: Wenn zwei Leute dasselbe sagen, ist es noch lange nicht dasselbe. Sondern welchen Sinn und welche Bedeutung etwas hat, hängt davon ab, wer die beteiligten Personen sind, welche Geschichte sie miteinander haben, ob ich ihnen vertraue, ob sie für mich Autorität haben.
Das Interessante am Internet ist nun, dass wir über die sozialen Netzwerke Beziehungen mit anderen Menschen aufbauen können, die dann in unsere Rezeption ihrer Texte einfließen und ihnen Autorität verleihen: Wir filtern nicht mehr nur die Themen und Schlagworte, die uns interessieren, sondern wir wählen die Personen aus, und gewichten das, was die eine sagt, als höher als das, was eine andere sagt. Diese Beziehungen hängen nicht von Klarnamen ab und nicht davon, dass ich die bürgerliche Identität der Person kenne, aber sie hängen sehr wohl davon ab, welche Beziehungen sich hier entwickelt haben. Die Autorität einer anderen Person muss sich über einen längeren Zeitraum bewähren, es hat mit Vertrauen und Verlässlichkeit zu tun.
Vor diesem Hintergrund kommen wir nochmal zurück zur Bedeutung von „Originalität“ und Urheberschaft. Ich hörte vor einiger Zeit den Vortrag eines Philosophen, der die These aufstellte, dass gar nicht wir selbst es sind, die sprechen, wenn wir sprechen. Damit wollte er auf die Tatsache hinweisen, dass wir uns unsere Gedanken meistens nicht selbst ausgedacht haben, sondern lediglich wiederholen, was wir von anderen bereits gehört haben. Das stimmt natürlich. Aber es bedeutet noch lange nicht, dass wir nur nachplappern. Es gibt nämlich einen Unterschied zwischen den Worten als solchen, die aus meinem Mund kommen, und der Tatsache, dass sie aus meinem Mund kommen, also dass ich sie auch sage (oder eben, heutzutage, ins Internet schreibe).
Für den Zusammenhang zwischen Autorität und Sprache ist nicht die Originalität des Gesagten oder Geposteten wichtig – meine Mutter hat das Wort Stuhl ja nicht erfunden, als sie mir das Wort beibrachte – sondern dass eine bestimmte Person es ist, die dieses jetzt sagt, die dieses jetzt ins Internet schreibt.
Natürlich habe ich vieles von dem, was ich sage (oder schreibe), mir nicht selbst ausgedacht, sondern es hat sich im Austausch mit anderen entwickelt. Aber das Entscheidende ist, dass ich es in einer bestimmten Situation auch tatsächlich ausspreche, dass ich es mit meiner Autorität und meiner Reputation in ein aktuell stattfindendes Gespräch einbringe. Denn das bedeutet, dass ich bereit bin, mit meiner Person und meinem Körper dafür – im wahrsten Sinn des Wortes – einzustehen.
In den Buchreligionen Judentum, Christentum und Islam ist es eine verbreitete spirituelle Praxis, heilige Texte laut zu rezitieren. Indem ich das tue, einen Text laut spreche, binde ich das Geschriebene wieder mit meiner Person in der Realität. Es kommt nicht nur darauf an, dass die Worte „dort stehen“, sondern auch darauf, dass sie von Menschen immer wieder ausgesprochen und mit Autorität ausgestattet werden.
Leider ist in der westlichen Kultur diese Verbindung des geschriebenen Wortes mit der Person, die es in einer konkreten Situation ausspricht und damit in der aktuellen Realität verankert, weitgehend verloren gegangen. Schriftliche Texte wurden tendenziell höher bewertet als das mündliche Sprechen, mit fatalen Folgen. Zum Beispiel der, dass „Heilige Texte“ – nicht nur religiöse, sondern auch Gesetze und Verordnungen zum Beispiel – sogar als Argument gegen eine reale Situation herangezogen werden, so als hätten sie eine eigenständige Autorität, die losgelöst von konkreten Menschen und Situationen existiert. Wie gefährlich das ist, können wir ja jeden Tag in der Zeitung lesen.
Schriftliche Texte, die nicht mehr von konkreten Menschen verantwortet werden, sondern denen man eine eigenständige, also im wahrsten Sinne des Wortes unmenschliche Autorität zuspricht, werden zu einer Waffe, mit deren Hilfe man andern Leid zufügen kann, ohne selbst dafür die Verantwortung tragen zu müssen.
Das Internet bietet die Möglichkeit, Text und Körper wieder zusammen zu binden. Texte zirkulieren nicht mehr bezugslos, sondern sie sind jederzeit verknüpfbar mit der Autorin und mit anderen realen Menschen aus Fleisch und Blut, die ihnen Autorität geben (etwa durch Retweets und Posts). Diese große Chance darauf, ein uraltes kulturgeschichtliches Dilemma zu überwinden, sollten wir nutzen.
Das bedeutet nicht, dass man zwangsweise Klarnamen einführen sollte. Klarnamen sind ja nur eine von vielen Möglichkeiten, die Beziehungen zwischen Menschen und ihren Medienprodukten zu pflegen und ihre Bedeutsamkeit zu würdigen. Worauf es mir ankommt ist, den Wert zu betonen, den diese Möglichkeit der Verknüpfung von Person und medial fixiertem Wort für einen echten Austausch hat. Wir sollten sie bewusst pflegen.


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