
Zurzeit nehme ich an einer höchst interessanten Tagung mit dem Titel „Let’s think about sex“ teil, die ursprünglich in der Akademie der katholischen Diösese Rottenburg-Stuttgart stattfinden sollte, aber vom dortigen Bischof dankenswerter Weise verboten wurde, sodass sie nun in Frankfurt stattfindet. Ich werde darüber Ende der Woche noch im Blog von Publik Forum schreiben und später auch ausführlicher in der Printausgabe. Aber da das zusammenfassende Berichte über die gesamte Tagung sein werden, verblogge ich hier bei mir einzelne Aspekte, die mir persönlich besonders interessant erscheinen.
Heute war das zunächst ein Vortrag der Frankfurter Psychoanalytikerin Ilka Quindeau, unter deren kompliziertem Titel „Jenseits der Geschlechterdichotomie. Eine alteritätstheoretische Konzeptualisierung von weiblicher und männlicher Sexualität“ ich mir zunächst nichts Rechtes vorstellen konnte. Aber ihre These hat mich dann sehr elektrisiert, denn sie lautet:
„Desiderata ergo sum“ – „Ich bin, weil ich begehrt werde.“
Die Grundlagen für menschliches sexuelles Lustempfinden werden demnach – bei einer Psychoanalytikerin nicht überraschend – in der frühesten Kindheit, im Säuglingsalter gelegt, und zwar dadurch, dass die Mutter (oder der Vater oder andere Erwachsene, die das Baby versorgen) bei dieser Betätigung selbst unweigerlich sexuelles Begehren empfinden, wenn auch unbewusst. Die Erfahrung von körperlicher Befriedigung, die der Säugling etwa beim Saugen an der Brust, aber auch beim Gewaschen oder Gewickelt oder Eingecremt oder Geschmust Werden empfindet, forme demnach die erogenen Zonen. Und zwar eben vermittelt dadurch, dass die Mutter selbst sexuell erregt wird, wenn der Säugling an ihrer Brustwarze nuckelt, oder dadurch dass der Vater oder die Tante oder wer auch immer mit dem Kind pflegerisch interagiert, ihrerseits auch sexuelles Begehren spüren.
Diese Entstehung des sexuellen Begehrens auf dem Weg des Begehrt Werdens durch Mutter/Vater/Sonstwen ist das, was Quindeau unter „Alteritätstheorie“ versteht. Sie grenzt sich damit von den zwei gängigen Interpretationen ab, nämlich einerseits von der Vorstellung, das autonome Subjekt Mensch sei selbst Schöpfer_in der eigenen Sexualität (dass das eigene Begehren sozusagen autonom entstehe), und andererseits von der Vorstellung, sexuelles Empfinden sei quasi in den Genen oder den Genitalien (interessante Wortähnlichkeit übrigens, wie mir gerade auffällt) bereits angelegt und würde sich im Lauf des Erwachsenwerdens lediglich „entfalten“.
Durch diesen Prozess des „Begehrtwerdens bei gleichzeitigem Befriedigungserlebnis“ entstehe ein Körpergedächtnis für besonders lustempfindliche Zonen des Körpers, in gewisser Weise Erinnerungen an frühe Befriedigungen, die später auch unabhängig von tatsächlichem Körperkontakt abgerufen werden können, etwa durch Phantasien.
Sexuelle Lust sei immer ein „komplexes Zusammenspiel von Phantasie, Erinnerung und gegebenenfalls Berührung“ und keineswegs eine Folge „schlichter Trieb- und Dampfkesselmotive“, wie Quindeau es schön anschaulich formulierte. Dieses Zusammenspiel werde im Lauf des Aufwachsens und weiteren Lebensverlaufes ständig mit neuen Erfahrungen erweitert und permanent umgearbeitet. Es gebe dabei keine strenge chronologische Abfolge, sondern die frühkindlichen Erfahrungen bedingen die späteren Lusterlebnisse, aber andersherum prägen auch die späteren sexuellen Erlebnisse die frühkindlichen Erinnerungen neu.
Dieses ganze Geschehen sei völlig unabhängig von den biologischen Fortpflanzungsfunktionen. Jeder Körperteil kann eine erogene Zone sein oder werden. Dass es vor allem die üblichen Verdächtigen sind – Mund, Anus und Vagina/Vulva beziehungsweise Penis – liege nur daran, dass es eben vor allem diese Körperteile sind, die bei der Tätigkeit des Nährens und Säubern eines Säuglings besonders häufig berührt werden.
Eine solche Sichtweise auf die Entstehung der körperlichen Lust stellt natürlich auch die übliche Verknüpfung von Geschlecht und Sexualität in Frage. Man kann nicht mehr prinzipiell zwischen männlicher und weiblicher Sexualität unterscheiden. Daher plädiert Quindeau zum Beispiel dafür, die Unterscheidung in Hetero- und Homosexualität aufzugeben, weil sie „der Vielgestaltigkeit von menschlicher Sexualität nicht gerecht wird.“ Word.
Die von traditionellen Sexualtheorien behauptete Spannung zwischen „männlicher“ und „weiblicher“ Sexualität – eine der Grundlagen von Heteronormativität – finde nicht, wie dort angenommen, in der Begegnung zwischen einer männlichen und einer weiblichen Person statt, sondern spiele sich innerhalb eines jeden Menschen selbst ab. Menschliche Sexualität bestehe immer aus einer Mischung von Passivität und Aktivität, Aggressivität und Rezeptivität, von „Reinstecken“ und „Reinstecken lassen“, denn zum Reinstecken kommen ja nicht nur Penisse in Frage, sondern auch Finger, Zungen oder Nasen, und zum Reinsteckenlassen nicht nur Vaginas, sondern auch Münder, Ohren, Anusse et cetera.
Und an dieser Stelle wäre dann auch mein einziger, kleiner Einwand gegen Quindeaus Vortrag angesiedelt, und zwar richtet er sich nicht gegen ihre Analyse, sondern gegen ihre Wortwahl. Denn sie formulierte das an dieser Stelle so, dass alle Menschen in Bezug auf ihre Sexualität „männliche und weibliche Anteile“ hätten. Diese Formulierung, bei der der „aggressive, penetrierende, aktive“ Aspekt von Sexualität als „männlich“, der „rezeptive, einlassende, passive“ Aspekt jedoch als „weiblich“ benannt wird, ist aber selber nur eine Folge der (falschen) Gleichsetzung des Phallus mit der einen und der Vagina mit der anderen Form. Wenn wir Quindeaus These ernst nehmen, dass prinzipiell jeder Körperteil eine erogene Zone sein kann, dann machen diese Formulierungen keinen Sinn.
Ich jedenfalls verwahre mich dagegen, dass die aggressiven, aktiven und penetrierenden Anteile meiner Sexualität als „männlich“ bezeichnet werden. Sie sind genauso ein wesentlicher Teil von mir wie die rezeptiven, einlassenden, passiven Aspekte meiner Sexualität. Und da ich eine Frau bin, sind sie also weiblich.


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