Gestern Abend stolperte ich zufällig über eine falsche Tatsachenangabe in der Wikipedia, und dabei kamen mir ein paar Gedanken, die ich hier kurz notieren möchte.
Ich schreibe zurzeit an dem Text für einen Comic über die Geschichte des Feminismus und war gestern abend beim Kapitel Wahlrecht. Zum Schluss wollte ich auflisten, wann das Wahlrecht für Frauen in welchen Ländern eingeführt wurde und machte, was man dann so macht: ich googelte. Und landete auf Wikipedia.
Und las da, dass die Pariser Kommune von 1871 das Frauenwahlrecht eingeführt hätte. Nun weiß ich aber sicher, dass das falsch ist. Ich habe nämlich intensiv über die Pariser Kommune geforscht, zwei von vier Frauen, über deren politische Ideen ich meine Dissertation geschrieben habe, waren maßgebliche Aktivistinnen in der Kommune. Wenn damals das Frauenwahlrecht eingeführt worden wäre, dann wäre mir das sicher nicht entgangen :).
Interessant ist allerdings, was das Googeln zu dem Thema mit mir selbst gemacht hat. Als ich die Behauptung vom Frauenwahlrecht der Kommune zum ersten Mal sah, war mein spontaner Impuls: „Was ein Quatsch“. Ich weiß es ja besser. Mein zweiter Gedanke war aber: „Und wenn ich mich bisher geirrt habe?“
Dieser zweite Gedanke wurde noch stärker, als ich „Pariser Kommune + Frauenwahlrecht“ googelte und auf massenweise Seiten stieß, wo genau diese Behauptung drinsteht. Zum Beispiel auf Frauennet.ch oder in einem aufwändig gestalteten Schaubild von Der Standard zur Geschichte des Wahlrechts. Außerdem auf zahlreichen anderen Seiten und Forumseinträgen, die Falschbehauptung hat seitenweise Treffer.
Diese spontane Reaktion, dass ich angesichts all dieser sichtbaren „Belege“ an dem zu zweifeln anfing, was ich doch ganz sicher weiß, hat mich überrascht. Das Gefühl „Ich kann doch nicht Recht haben, wenn da überall im Internet steht, dass es anders war“ war stark, und ich musste mich mit rationaler Anstrengung und strikter Logik erst wieder selber davon überzeugen, dass ich tatsächlich Recht habe.
Diese Zeitspanne, das weiß ich ziemlich genau, dauerte etwa eine halbe Stunde. In meinem ersten spontanen Impuls wollte ich nämlich gleich twittern, was für ein Quatsch in der Wikipedia mal wieder steht. Aber dann habe ich gezögert, diesen Tweet abzuschicken und eine halbe Stunde lang noch einmal nachgedacht, mir die logischen Argumente vor Augen geführt, das Kapitel in meiner Diss nochmal gelesen, noch mal durch die einschlägige Literatur gezappt. Dann hab ich das getwittert.
Dieser Impuls des Zögerns ist natürlich eigentlich lobenswert, aber letztlich fand ich es unterm Strich doch beängstigend. Denn es handelte sich hier ja nicht um die gedankenlose Weiterleitung irgendeiner Spekulation, sondern darum, öffentlich zu sagen, was ich weiß. Ich kenne mich nun einmal ziemlich gut mit der Geschlechterpolitik der Pariser Kommune aus. Und trotzdem lasse ich mich von einer Menge, die unbelegte Wikipediabehauptungen copypastet, verunsichern?
Nachdem ich also meine Sicherheit wieder gefunden hatte, überlegte ich, was ich denn nun unternehmen soll. Mein spontaner Impuls war, den Satz einfach zu löschen. Dann bekam ich aber von vielen auf Twitter den Ratschlag, meine Sicht der Dinge auf der Wikipedia-Diskussionsseite zu äußern und zu belegen. Aber wie soll man belegen, dass es etwas NICHT gegeben hat? Ich meine: In den Quellen zur Kommune ist vom Frauenwahlrecht nicht die Rede. Niemand hat auch nur darüber diskutiert.
Ich habe dann beides gemacht, den Satz gelöscht und auch „objektive“ Argumente in die Diskussionsseite geschrieben (zum Beispiel dass auch andere Kommuneforscher selbstverständlich davon ausgehen, dass es kein Frauenstimmrecht gegeben hat oder dass auf der französischen Wikipedia-Seite über „Droit de vote des femmes“ auch nichts von einem solchen während der Pariser Kommune steht) und ich nehme mal an, dass der Satz über kurz oder lang draußen ist.
Ich bin nicht ganz sicher, was daraus zu schließen ist. Außer natürlich, dass man Wikipedia-Behauptungen nicht ungeprüft weitererzählen soll. Oder wenn, sollte man wenigsten dabei schreiben, dass man es aus der Wikipedia hat. Aber die „Wucht“ der „Massenmeinung“, wenn man so will, ist eben doch sehr groß.
Jemand schlug zum Beispiel vor, den Satz nicht zu löschen, sondern umzuformulieren im Sinn von „Fälschlicherweise wird angenommen… Tatsächlich aber….“ Aber das ist ja nicht wahr. Es gibt nur eine einzige Quelle für diese „Annahme“, und das ist Wikipedia, alle anderen schreiben das nur ab. Sie haben also eigentlich gar keine Meinung zum Thema, wahrscheinlich wissen sie nicht mal, was die Pariser Kommune war, sie plappern einfach nur nach.
Das ist doch etwas ganz anderes als wenn zum Beispiel eine andere Forscherin, die sich auch in den Quellen auskennt, aus irgendwelchen Erwägungen heraus zu der Ansicht gelangen würde, dass es doch ein Frauenwahlrecht in der Kommune gegeben haben könnte. Mit ihr könnte ich argumentieren. Oder auch, wenn zum Beispiel sozialistische Aktivistinnen, die die Kommune als Vorbild feiern, irgendwie auf diese Idee gekommen wären und in ihren Broschüren vertreten. Mit ihnen könnte ich auch argumentieren, denn sie interessieren sich für das Thema und haben einen Zugang dazu, und zumindestens schon mal zehn Minuten Zeit aufgewendet, um darüber nachzudenken.
Das Problem ist nicht, dass Leute verschiedene Meinungen zum Frauenwahlrecht in der Kommune hätten (alle, die überhaupt eine irgendwie fundierte Meinung dazu haben, sind der Meinung, dass es das nicht gegeben hat), sondern dass im Internet die Stimmen derer sehr laut werden, die überhaupt keine eigene Meinung dazu haben, sondern eben nur copypasten. Und das ist es, was mich als „Expertin“ erschüttert: Dass ich – etwa beim Wikipedia-Editieren – nicht nur mit Menschen argumentiere, die anderer Ansicht sind als ich, sondern mit Menschen, die überhaupt keine Ansicht haben und sich nur auf die Tatsache berufen (können), dass zig andere das doch schon auf ihre Internetseiten draufkopiert haben.
Eine These, die ich daraus ableite ist, dass es in Bezug auf Medienkompetenz im Internet nicht nur darauf ankommt, vorsichtig zu sein mit Behauptungen, die man nicht selber verifiziert hat. Sondern dass es andersrum genauso wichtig ist, Vertrauen in sich selbst zu haben und in das, was man weiß oder selbst erlebt hat, auch wenn die „Massen“ das anders sehen.
Ich weiß nicht, ob das jetzt verständlich war, ist nur so ein erstes Resumee.
PS: Ich habe mir auch überlegt, wie es zu dieser Falschbehauptung eventuell gekommen sein könnte, und mir sind drei Möglichkeiten eingefallen. Erstens haben die Kommunarden immer vom „suffrage universel“ gesprochen, das sie angeblich eingeführt hätten, also vom allgemeinen Wahlrecht. Damit meinten sie aber das allgemeine Wahlrecht aller Männer. Eine andere Möglichkeit wäre, dass die unbestritten große Präsenz von Frauen in der Kommune und ihr bemerkenswerter Aktivismus zu der Fehlannahme verleitet hat, sie hätten bestimmt auch das Wahlrecht gehabt. Eine dritte Möglichkeit ist, dass das aus eine bestimmten Glorifizierung der Kommune von Seiten linker Gruppierungen herrührt, die manchmal dazu tendiert, alles Gute, das man sich wünscht, auf diese sechs Wochen zurück zu projizieren. Oder war es noch was anderes? Vielleicht meldet sich ja der oder diejenige, die das in die Wikipedia reingeschrieben hat (es ist ja auch nicht ganz auszuschließen, dass es wiederum von anderswo abgeschrieben worden war).
PPS: Wie das mit der Kommune und den Frauen war, verbloggte ich schonmal hier
PPS: Rein theoretisch ist es natürlich auch möglich, dass es das Frauenwahlrecht in der Kommune gegeben hat. Ich war ja nicht dabei und auch niemand anderes, der noch lebt, war dabei. Wir können zur Beurteilung dieser Frage nur auf Quellenmaterial und Augenzeugenberichte zurückgreifen, und das kleine Einmaleins der historischen Forschung sagt, dass nur, weil etwas nicht erwähnt wird, das kein Beweis dafür ist, dass es das nicht gegeben hat. Es ist also durchaus eine gewisse Frage der Einschätzung, und theoretisch ist es möglich, dass die Frauen in der Kommune gewählt haben, ohne dass davon irgend eine Spur in den Quellen geblieben wäre. Die Frage ist nur, wie wahrscheinlich das ist.
PPPS: Beim Kongress an der Sorbonne zum 150. Jubiläum der Ersten Internationale habe ich die Gelegenheit genutzt, sämtliche Anwesenden Forschenden und Experten der damaligen Arbeiterbewegung diese Frage vorzulegen, ob es eventuell in der Kommune ein Frauenwahlrecht gegeben haben könnte. Ihre übereinstimmende Reaktion war: No Way!

Was meinst du?