Anarchisten in der Endlosschleife

An und für sich ist die Idee klasse: Eine kleine Geschichte des Anarchismus im Comic-Format. Leider befindet sich der Anarchismus in Deutschland offenbar in einer Zeitschleife. Seit dreißig, vierzig Jahren, so scheint es, bewegt sich hier im Denken rein gar nichts. Anders ist es kaum zu erklären, dass man immer wieder dieselben Dinge wiederkäut. Unter dem Stichwort „Geschichte des Anachismus“ etwa spulen sich reflexhaft die immer selben Namen ab – Stirner, Proudhon, Bakunin, Kropotkin – und öffnen sich immer dieselben Schubladen – individualistischer, kollektivistiser und so weiter Anarchismus und so weiter und so weiter.

Kl_geschichte_d_anarchUnd jetzt gibt es das Ganze eben auch noch als Comic. Nicht einen einzigen Gedanken habe ich in diesem Büchlein gefunden, den ich nicht schon hundert Mal anderswo gehört habe. Nun könnte man natürlich einwenden: Ist die Geschichte denn nicht immer dieselbe? Wieso soll sich daran etwas ändern, wenn es doch nun einmal so war?

Das wäre aber eine recht einfältige Vorstellung. Geschichte erinnern bedeutet immer und unweigerlich, Vergangenes zu interpretieren und auf das Hier und Heute zu beziehen. In einen Dialog mit der Vergangenheit zu treten, in den man selbst auch involviert ist. Deshalb verändern sich Geschichtsbücher im Allgemeinen im Lauf der Jahre. Nicht weil die Geschichte eine andere geworden wäre oder die früheren falsch gewesen wären, sondern weil man selbst sich in der Zwischenzeit verändert hat, andere Fragen stellt, sich für neue Aspekte interessiert.

Und so sagt es nichts Gutes über den Stand des Anarchismus in Deutschland aus, wenn dessen Vertreter immer noch dasselbe über ihre eigene Geschichte erzählen, wie schon vor einem halben Jahrhundert. Wenn sie zum Beipiel immer noch Proudhon unkritisch und unhinterfragt als eine ihrer Leitfiguren feiern, obwohl es gute Gründe gibt, sich gründlich für ihn zu schämen (zum Beispiel, aber nicht nur wegen seiner frauenhasserischen Hetztiraden). Und überhaupt diese Ahnenreihen großer Vordenker – sowas wirkt heute schlicht antiquiert. Aber all die einschlägigen Verdächtigen bekommen auch hier wieder ihre Doppelseite, nur die Männer natürlich. Denn die Frauen werden, ganz wie gehabt, alle in einen Sack gesteckt und unter der Rubrik „Anarchafeminismus“ subsumiert (und müssen sich gemeinsam eine Doppelseite teilen).

Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre: Simone Weil und Emma Goldman in einer Kategorie! Zwei Denkerinnen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Aber sie waren halt Frauen, und das macht es offenbar für manche Leute unmöglich, in ihnen individuelle Denkerinnen zu sehen – so alt, so langweilig.

Natürlich wäre ein revolutionärer Mann nicht wirklich ein revolutionärer Mann, würde er heute noch mit patriarchalem Getue kommen. Im Gegenteil: Heute will man am liebsten auch noch der bessere Feminist sein. Also muss das Prinzip Cover-Girl her: Man setzt ein fesches Mädel auf den Titel, schreibt alles durchgängig mit großem I und malt überhaupt möglichst viele Frauen überall auf die Seiten. Will sich da am Ende noch jemand beschweren?

Beschweren vielleicht nicht, aber desinteressiert abwenden ganz bestimmt. Denn diesen deutschen Anarchisten ist es ja offensichtlich sowieso schnurzpiepegal, was die weibliche Differenz und das Denken von Frauen sie lehren könnte. An Versuchen, ihnen die zu vermitteln, hat es in den vergangenen Jahrzehnten nämlich keinesfalls gefehlt. Sie können sich also – und das zumindest ist anders als vor dreißig, vierzig Jahren – nicht mehr auf einen schlechten Forschungsstand berufen. Wenn sie nur wollten, könnten sie heute mehr wissen. Aber sie wollen halt offensichtlich nicht. Der deutsche Anarchismus, eingewickelt in seine eigene Endlosschleife, genügt sich selbst und interessiert sich nicht für anderes. Und jetzt gibt es den Beweis für diese Ignoranz eben auch in Bildern.

Zum Glück dreht sich die Welt auch ohne sie weiter. Soll dann aber bloß keiner kommen und über die eigene Bedeutungslosigkeit jammern. Sie ist wohlverdient.

Findus: Kleine Geschichte des Anarchismus. Ein schwarz-roter Leitfaden. Verlag Graswurzelrevolution. Heidelberg 2009, 7,80 Euro.

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

5 Gedanken zu “Anarchisten in der Endlosschleife

  1. Große Vordenker/innen zu zitieren ist ja jetzt mal nicht schlecht denn man/frau muß ja das Rad nicht 2 mal erfinden, mit dem interpretieren und weiterentwickeln der Theorie hast du natürlich Recht. Ahem… die Titelfigur auf dem Comic ist ja immerhin ein Mädchen… hihihi…
    Übrigens… ich glaube* es war Karl Marx, auch so ein Vordenker… hohoho… der gesagt hat, glaube* ich: „Anarchismus ist die Theorie verzweifelter Intellektueller und des Lumpenproletariats.“ (neudeutsch: Assis)

    * Hhmmm… ich google schon die ganze Zeit nach diesem Zitat finde es aber bisher nicht schriftlich fixiert… deshalb auch: ich glaube – interpretiere glaube jetzt in meinem Fall als vorweggenommenes Wissen… 😉

    Übrigens 2… ich entwickele mal weiter: wenn es Lumpenproletarier gibt, gibt es bestimmt auch Lumpenpatrizier…!

    liebe Grüsse
    WhiteHaven

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  2. Na, das was der gute Herr Marx über den Anarchismus geschrieben hat, war meistens eher gehässig als informiert. Der Begriff Lumpenproletariat war damals weit verbreitet, klar, war wohl so ähnlich wie heute mit den Assis. Oder sagt man heute vornehmer „bildungsferne Schichten“ : grrrrr.
    🙂 – Ich habe mal was geschrieben über Frauen im frühen Anarchismus: http://www.antjeschrupp.de/fruehe_anarchistinnen.htm

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  3. hallo,

    ich finde es zwar richtig, die in dem fall frauenfeindlichen äußerungen der „altvorderen“ hervorzuheben, aber es geht doch um deren inhaltliches zutun. und an der inhaltlichen richtigkeit ändert es keinen deut, wenn der urheber, die urheberin nebenbei vollkommenen unsinn von sich gegeben hat. genaus verhält es sich mit deinem urteil „antiquiert“. ebenfalls kein inaltliches argument, sondern eine einfach behauptung. kein argument, gar nichts. schade, eigentlich.

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  4. Mir scheint hier die Besprechung des Buches nur ein Vorwand, einen nicht durch diese Lektüre entstandenen Groll gegen „den“ Anarchismus „in Deutschland“ auszusprechen (und dieser mag durchaus berechtigt sein). Dem Buch gegenüber erscheint mir das ungerecht, weil hier beispielsweise nicht wie in der Rezension behauptet „immer noch Proudhon unkritisch und unhinterfragt als eine ihrer Leitfiguren“ gefeiert wird. Dieser wird vielmehr S. 22 vorgestellt als „das Enfant terrible des Anarchismus, neigte (…) leider auch zu Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit.“ Selbstverständlich wird auch (S.[28] erwähnt, daß Simone Weil gerade keine Feministin war, natürlich werden gerade individuelle Unterschiede und die Vielfalt der Ansätze benannt. Der Comic beginnt ja auch nicht etwa mit der tatsächlich notwenig schematischen Kurzbeschreibung der verschiedenen Strömungen und ihrer charakteristischen Vertreter, sondern behandelt davor Ansätze libertärer Erziehung, libertäres Wohnen, libertäre Musik und utopische Literatur. Aber soll eine „kleine Geschichte des Anarchismus“ etwa Proudhon – um bei dem Beispiel zu bleiben – einfach weglassen, so als hätte er nicht die Geschichte des Anarchismus und der ArbeiterInnenbewegungen und natürlich der feministischen Bewegungen (durch Abgrenzung: Jenny d’Hericourt!) beeinflusst? Welche Vorwürfe würde das Buch dann erst auf sich ziehen? Wegzulassen, was einem (!) nicht in den Kram passt … Sind wir Stalinisten? Oder eine Familie, die aus den Fotoalben jeweils die Abgebildeten mit den falschen Uniformjacken herausschneidet wie in Dubravla Ugresics „Museum der bedingungslosen Kapitulation“? Daß sich Geschichtsbücher im Lauf der Jahre ändern, hat oft mit momentanen Machtverhältnissen zu tun (wir müssen nicht gleich an Orwells „1984“ denken und mit Wunschdenken. Wenn an linken Geschichtsbüchern etwas zu kritisieren ist, dann in aller Regel gerade die Zurichtung auf aktuelle Interessen, das Weglassen unangenehmer Erfahrungen, die aber allein in der Lage wären, Erfahrungen aus den Niederlagen bewußt zu verarbeiten, statt eines Triumphalismus, der immer schon alles richtig macht – und sich dann wundert, warum noch immer die anderen gesiegt haben.

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  5. @sillu – Warum sollte ich denn das Buch als Vorwand brauchen, um meine Kritik am Anarchismus zu äußern? Ich habe keinen „Groll“ gegen den Anarchismus (das klingt ja so, als sei das eine emotionale Sache meinerseits), sondern ich bin selbst Anarchistin. Und deshalb kritisiere ich die Art und Weise, wie die „Frauenfrage“ seitens vieler anarchistischer Männer für unwichtig gehalten wird. Der Comic ist dafür aus meiner Sicht ein Paradebeispiel. Na klar, kann man dieses „Thema“ heute nicht mehr ganz ignorieren. Also stellt man ein „Frauenkapitel“ hinten an und ansonsten bleibt alles beim Alten. Wie in dem Proudhon-Einschub klar wird: Dass er „leider auch zu Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit neigte“ ist reichlich verniedlichend. Ich bin nicht der Meinung, man sollte Proudhon weglassen, sicher gehört er in die Geschichte des Anarchismus, aber man muss sich auch damit auseinandersetzen und es nicht nur en passant erwähnen. Und wenn Simone Weil keine Feministin war, was hat sie dann auf der Seite Anarchafeminismus zu suchen? So etwas ärgert mich einfach, weil es die Ignoranz gegenüber dem „Frauendings“ fortschreibt, gerade in dem es eben nur „erwähnt“ wird (damit man aus dem Schneider ist), aber nicht wirklich in die Analyse einbezogen. Deine Stalinismus-Vergleiche im Bezug auf mich finde ich übrigens ziemlich daneben.

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