
Wenn Liebe, Sex und Beziehungen eine logische Angelegenheit wären, dann wäre dieses Buch die Bedienungsanleitung dafür: Mit bestechender Stringenz nimmt Oliver Schott die verbreitete Vorstellung auseinander, dass Exklusivität im Bezug auf Liebesbeziehungen zwischen Zweien eine normale, natürliche, irgendwie sinnvolle Vereinbarung sei. Ergo: Monogamie ist Quatsch.
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anz neu sind die vorgebrachten Argumente nicht. Hätte ich mit 25 ein Buch geschrieben, hätte wahrscheinlich etwas sehr Ähnliches darin gestanden. Mein erster Freund und ich philosophierten, dass die ideale Beziehung eigentlich die „17-er-Beziehung“ wäre – und nicht nur theoretisch. Sicher, wir waren nicht Mainstream damals, aber auch nicht so außergewöhnlich, wie es heute im Rückblick scheint – das war ja noch vor Aids und vor der „geistig-moralischen Wende“ unter Kanzler Kohl. Die monogame Eingleisigkeit der Diskussionen über „Beziehungen“ ist seither wieder enorm angestiegen, und insofern ist das Buch ein schöner Weckruf, der nostalgische Erinnerungen an frühere, freiere, ungezwungenere Zeiten weckt.
Nur kurz einige der Argumente: Das Konzept der Monogamie, schreibt Schott, sei schon deshalb problematisch, weil in ihm der Sex eine extrem dominante Bedeutung bekommt. Denn „Sex mit anderen“ ist ja die wesentliche Grenzziehung zum „Fremdgehen“, daher muss ständig die Frage gestellt werden, was genau Sex ist. Ist es schon das Umarmen, das Händchen halten oder erst die Penetration? Oder irgendwas dazwischen? Was genau?
Monogamie erfordert ohnehin ständig Definitionen: Was macht eine Beziehung aus? Wo ist die Grenze, die nicht überschritten werden darf? Warum darf ich mit anderen Leuten Kaffee trinken und tiefschürfende Gespräche führen, aber nicht mal ne Runde kuscheln? Wo genau verläuft die Grenze zwischen „Freundschaft“ und „Liebe“? Mit anderen Worten: Monogamie verhindert, dass Beziehungen in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit gesehen werden, sie müssen in feste Raster gepresst werden.
Interessant fand ich auch Schotts Kritik an bestimmten Spielarten der „Polyamorie“ – einer neueren Bewegung, die für die Möglichkeit eintritt, Liebesbeziehungen zwischen mehreren zu führen. Schott kritisiert nun, dass auch „Poly-Beziehungen“ meist als exklusiv angelegt sind – nur dass hier eben nicht zwei, sondern mehrere Leute in einer Beziehung sind. Zudem neigten zumindest einige „Polys“ zu einer biologistischen Herleitung ihrer Lebensform, wenn sie meinen, dass manche Menschen eben „mono“ und andere „poly“ veranlagt seien. Demgegenüber beharrt Schott darauf, dass Beziehungsformen kulturelle Aushandlungen sind und nicht in irgendeiner Weise angeboren.
Das nur einige der Argumente, das kleine Büchlein ist auf jeden Fall empfehlenswertwert (und man hat es dank seines keinen Formats auch schnell durchgelesen).
Doch trotz der bestechenden Logik glaube ich, dass offene Beziehungen, jedenfalls bei uns und in absehbarer Zeit, ein Nischendasein fristen werden. Und zwar deshalb, weil die Menschen heute nicht mehr – wie in den früheren Zeiten, von denen Schott sich abgrenzt – vor allem unter sexuellen Tabus leiden. Es ist ja im Prinzip alles erlaubt, und ich denke nicht, dass sozialer Druck heute noch im gleichen Maß wie früher der Grund dafür ist, warum wir nicht längst beziehungsmäßig alle viel freier leben.
Ich denke, das Hauptproblem vieler Menschen heute ist ihre unbefriedigte Sehnsucht nach Verbindlichkeit in ihren Lebensbezügen. Sie wünschen sich mehr Verlässlichkeit im Bezug auf die Frage „Wohin gehöre ich? Auf wen kann ich mich bedingungslos verlassen?“ – und finden darauf keine befriedigenden Antworten.
Hier legt auch Schott den Finger auf die Wunde: Mit dem Abschied von der wirklich exklusiven, also lebenslangen Monogamie (damals, als Scheidungen verboten oder zumindest sehr selten waren) und ihrer Ablösung durch die serielle Monogamie (wir haben viele, wechselnde Lebenspartner_innen, aber eben hintereinander und nicht gleichzeitig) war das alte Konzept der „Familie“ praktisch schon abgeschafft. Seither gilt: Eine Ehe, eine monogame Beziehung, schützt mich nicht vor Einsamkeit, denn sie kann jederzeit vorbei sein, wenn die Neigungen meines Partners oder meiner Partnerin sich anderweitig orientieren.
Ich vermute, das fast schon verzweifelte und durchaus irrationale Festhalten am Konzept der Monogamie liegt auch daran, dass man sich davon genau diese Sicherheit erhofft, selbst wenn die auf sehr wackeligen Beinen steht. Wahrscheinlich hat Schott durchaus recht, wenn er argumentiert, dass offene Beziehungen letztlich nicht weniger, sondern sogar mehr Stabilität bieten, weil nicht jede neue Verliebtheit zwangsläufig dazu führt, dass die alte Beziehung beendet werden muss.
Aber: Das reicht nicht. Das Unbehagen an der Einsamkeit, die Furcht, jede „Familie“, jedes Beziehungsgefüge einfach so wieder verlieren zu können, wenn die anderen gerade keine Lust mehr haben, ist zu groß. Und eine Philosophie der offenen Beziehung gibt auf die Sehnsucht nach Verbindlichkeit keine Antwort – sie macht lediglich das, was uns fehlt, offensichtlicher. Wie aber zu verbindlichen Beziehungen finden, wenn wir die alten Verhältnisse der Unfreiheit, des Zwangs, den die exklusive Monogamie bedeutet hat, nicht mehr zurück haben wollen? Woraus gewinnen wir die Zuverlässigkeit und Kontinuität in unseren Beziehungen und retten gleichzeitig unsere Freiheit?
Das ist eben die offene Frage und die, wie ich finde, eigentliche Herausforderung heute. Kann man Freundschaften verbindlicher machen? Wie sieht es etwa beim finanziellen und materiellen Füreinander Sorgen aus? Die bisherigen Debatten über Lebensformen hatten da nicht viel zu bieten, wie man selbstkritisch eingestehen muss. Die Anerkennung der Homosexualität zum Beispiel, die früher mal zumindest auch als Alternativmodell zur heterosexuellen Zweierkiste diskutiert wurde, ist inzwischen ganz auf die rechtliche Gleichstellung eingedampft worden: Das alte Modell der Ehe soll nun eben auch für zwei Menschen des gleichen Geschlechts gelten. Und auch die Kommune- oder WG-Idee hat kaum noch Wegweisendes zu bieten. Dass es hier um mehr gehen könnte als darum, Räumlichkeiten zu teilen – etwa um gemeinsames Wirtschaften oder gemeinsame langfristige Lebensplanung – wird nur selten ernsthaft erprobt.
Hier liegt aus meiner Sicht das eigentliche Manko libertärer Gesellschaftskonzepte: Welche Formen von Selbstverpflichtungen und Versprechen wollen wir einander geben – und wem? Woraus entstehen Verbindlichkeiten, auf die man sich auch „in schlechten Zeiten“ verlassen kann? Wie schaffen wir Zugehörigkeiten, die nicht auf bloßen Neigungen beruhen und somit jederzeit einseitig wieder gekündigt werden können? Momentan sieht es so aus, als stellten wir die individuelle Freiheit über alles. Und doch wünschen sich die meisten Menschen verbindliche, tragende Beziehungen – und projizieren sie mangels Alternative auf die monogame Liebesbeziehung.
Meine Prognose ist, dass das auch so bleiben wird, solange wir nicht unser Konzept von „Freiheit ist Unabhängigkeit“ überdenken. Und solange wir nicht unsere Sehnsucht nach Zugehörigkeit ernst nehmen und darauf praktikable Antworten finden – Antworten, die sich im Leben bewähren müssen und die man nicht abstrakt logisch herleiten kann. Erst dann werden vielleicht mehr Menschen bereit sein, sich auch von der Scheinlösung Monogamie zu verabschieden.
Oliver Schott: Lob der offenen Beziehung. Über Liebe, Sex, Vernunft und Glück, Bertz + Fischer, Berlin 2010, 103 Seiten, 7,90 Euro.
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