Es ist eine interessante Zeit, um in Schwaben ein Seminar über politische Philosophie zu halten. Als Politikwissenschaftlerin interessiert mich natürlich sehr, was derzeit in Stuttgart passiert. Dass es hier nicht um einen Bahnhof geht, sondern um viel mehr, nämlich um einen Streit über das, was Politik und Demokratie bedeutet, war von Anfang an klar, und viele haben seither dazu geschrieben – manche sind auch verärgert, dass gerade so ein Randthema so viel Aufmerksamkeit bekommt (gäbe es da nicht noch Hartz IV, Atomkraftwerke, Rassismus und ähnliches?).
Es gehört aber zum Wesen von politischen Bewegungen, dass sie sich ungeplant, unerwartet und an unvorhergesehenen Orten formieren. Das gefällt mir gut, nicht nur wegen meiner Neigung zum Anarchismus, sondern auch, weil es die Möglichkeit offen hält, dass auf dem Gebiet der Politik Sachen geschehen können, die nicht der Planung eines Politstrategen entspringen (sei er nun links oder rechts oder sogar eine „sie“), sondern einem tatsächlichen Bedürfnis von Menschen. Dass die Gefahr des Populismus dabei immer hinter der nächsten Ecke steht, stimmt. Aber es gehört zum Unvorhersehbaren der Politik, dass sie riskant ist. Weil man nicht weiß, welche Folgen das eigenen Handeln jeweils hat (eine alte Weisheit von Hannah Arendt).
Bei unserem Seminar gestern diskutierten wir folgende Politikdefinition von Luisa Muraro:
„Politik heißt, die Hindernisse benennen, angehen und wenn möglich beseitigen zu können, die einem menschlichen Zusammenleben entgegenstehen. Politik heißt, im Bewusstsein zu haben, dass viele gesellschaftliche Konflikte unvermeidlich sind, angefangen mit denen, die man mit sich selbst hat. Politik heißt, im Bewusstsein zu haben, dass viele Konflikte unlösbar sind. … Vor allem heißt Politik aber, aus all diesen Engpässen heraus ein menschliches Zusammenleben hervorzubringen, das diejenigen, die größere und freiere Abenteuer wagen wollen, bei diesem Wagnis unterstützt, sodass dadurch auch die Grenzen politischer Vermittlung erweitert werden.“
„Das schicken wir dem Mappus“, war eine der spontanen Reaktionen der Teilnehmerinnen, aber nach einigem Nachdenken war klar, dass man es auch einigen von denen schicken müsste, die sich jetzt an die Spitze der Anti-Bahnhof-Bewegung stellen.
Also fragten wir: Wo sind die Leute, die derzeit versuchen, aus dem Konflikt eine Lösung zu finden? Wo sind die Orte, an denen echte Politik in diesem Sinne stattfindet? Wir wussten es nicht. Vielleicht sind es die Küchentische, an denen jetzt bestimmt heiß debattiert wird. Vielleicht ist es der Bauzaun, an dem sich Leute über die Hintergründe des Projekts informieren, das sie bisher gar nicht interessiert hat.
Wir diskutierten noch einen zweiten Text, in dem Luisa Muraro sich über den „Ausschluss der Frauen“ aus der ersten Berlusconi-Regierung Ende der 1990er Jahre Gedanken macht. Mir scheint der Text spannend und richtig, auch für unsere Situation, obwohl wir natürlich längst nicht mehr von einem Ausschluss der Frauen aus der Regierung sprechen können. Zwar sind die maßgeblichen Protagonisten und Kontrahenten rund um „Stuttgart21“ Männer (Mappus, Rech, Özdemir), aber es gibt heute auch Angela Merkel. „Ausschluss der Frauen“ stimmt nicht mehr, aber vielleicht könnte man durchaus noch von einem Ausschluss von „Weiblichkeit“ aus der Regierung sprechen – eine Intuition, die offenbar auch der SPIEGEL hatte, der seinen Artikel über Mappus und Stuttgart mit dem Satz beendete, „die Zeiten für starke Männer“ seien nie schlechter gewesen.
Wie auch immer, Luisa Muraro schrieb damals, also vor gut zehn Jahren:
Wenn wir nun über den Ausschluss der Frauen aus der gegenwärtigen Regierung nachdenken, erhebt sich die Frage: Wovon bin ich als Frau oder sind meinesgleichen genau ausgeschlossen? Wovon halte ich als Mann oder halten meinesgleichen das andere Geschlecht fern? Nicht vom politischen Leben, so wird uns bewusst, sondern von den Szenarien seines Todeskampfes, in dem sich das politische Leben immer dann befindet, wenn es sich in Bürokratie, Technologie, in einer Farce, in Geschwätz oder in Gewalttätigkeit verwandelt. Nicht vom politischen Leben, aber von den Inszenierungen um ein ständiges, zwanghaftes Sichinfragestellen der Männer in Bezug auf die Macht. Für viele ist aber genau dieses an die Stelle des politischen Lebens getreten. … Die Orte, an denen die Männer um die Macht streiten, sind nicht die Orte des politischen Lebens. Denn auch die Politik zieht sich von dort zurück und geht zu einem Anderswo …
Dieser Todeskampf der herkömmlichen Politik entfaltet sich am Beispiel von Stuttgart vor unseren Augen, und er wird nicht aufgehalten davon, wenn sich heute auch Frauen daran beteiligen. Die Analyse stimmt nach wie vor: Die Orte, an denen die Männer (oder auch die Frauen, die es ihnen gleich machen) um die Macht streiten, sind nicht die Orte des politischen Lebens, denn die Politik zieht sich von dort zurück.
Das war selten so deutlich, wie rund um „Stuttgart 21“: Ob Bahnchef Grube den Neubau-Gegnerinnen und Gegnern das „Widerstandsrecht“ abspricht oder Ministerpräsident Mappus jedes Überdenken des Projekts kategorisch ausschließt, oder Bundeskanzlerin Merkel mit Hinweis auf demokratisch legitimierte Entscheidungsprojekte ein Basta ausspricht: Alles Argumente, die sich auf die reine Macht zurückziehen und die Notwendigkeit einer Vermittlung nicht nur implizit, sondern eben auch tatsächlich explizit ausschließen. Genau das ist es, und nicht das Projekt als solches, das die Leute so ärgert. Von den zehn Schwäbinnen aus dem Seminar haben alle die Proteste in Stuttgart unterstützt. Die meisten waren ursprünglich gar nicht gegen „Stuttgart 21“ gewesen, sondern standen dem Projekt gleichgültig oder sogar positiv gegenüber.
Aber sie wollen es nicht akzeptieren, dass die politisch Verantwortlichen schlicht und einfach die Notwendigkeit leugnen, politische Standpunkte zu vermitteln, bloß weil sie formal nicht dazu gezwungen sind. Es ist Unsinn über ein „Recht auf Widerstand“ zu reden, denn Widerstand gibt es oder gibt es nicht, und wenn es ihn gibt, dann automatisch auch die Notwendigkeit, sich damit inhaltlich auseinanderzusetzen. Und formale demokratische Abläufe sind wichtig, aber natürlich können ihre Ergebnisse auch wieder in Frage gestellt werden, insbesondere wenn Rahmenbedingungen sich ändern. Das war übrigens ein zweites Argument, das ich in dem Seminar von vielen hörte: Dass sich mit der Finanz- und Wirtschaftskrise, die, wie alle wissen – auch wenn die offiziell-politische Propaganda anders lautet – keineswegs „überwunden“ ist, die Voraussetzungen für solche teuren Projekte geändert haben. Gerade in Schwaben zählt dieses Argument.
Das Problem derjenigen Befürworter und Befürworterinnen von Stuttgart 21, die sich jetzt auf formale Macht zurückziehen ist, dass sie dieses Bedürfnis nach echter Politik im Sinne von Vermittlung eigener Standpunkte und dem Aushandeln von Lösungen unterschätzt haben. Und vielleicht eben nicht nur unterschätzt, sondern sogar absichtlich ignoriert, was der eigentliche Skandal ist. Deshalb löst der massive Polizeieinsatz hier solche Empörung aus (und nicht bei anderen Gelegenheiten): Er macht unmissverständlich klar, dass es nicht um Politik geht und auch nicht gehen soll, sondern um Macht.
Wo ist aber dieses Anderswo, wohin die Politik gegangen ist, von dem Luisa Muraro spricht? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist auch die Frage gar nicht so sehr, wo die Orte sind, an denen noch wirklich Politik stattfindet. Sondern wie wir jene Orte, an denen wir selbst uns jeweils befinden, zu solchen Orten machen können.
Auch lesenswert zum Thema ist Dorothee Markerts Blogpost über „Primäre Politik“


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