Über die denkwürdige Rede von Sibylle Lewitscharoff habe ich heute beim Spaziergehen nachdenken müssen. Nicht über ihre krasse Wortwahl, über die sich ja schon alle aufgeregt haben, denn mir gefallen krasse Wortwahlen eigentlich: Ansichten werden ja auch nicht dadurch besser, dass sie in diplomatische Vokabeln verpackt werden.
Die Frage, die mich interessiert, ist nicht, warum Lewitscharoff sich so krass ausdrückt, sondern was sie dazu bringt, solche Ansichten zu haben. Ich glaube nicht, dass ihr Fall sarrazinesk ist, dass es ihr also vor allem um Aufmerksamkeit und Selbstinszenierung geht. Ich glaube, dass sie sich tatsächlich irrt, weil sie etwas Wichtiges nicht verstanden hat.
Der inhaltliche Punkt ihrer verbalen Ausfälle war eine „Abscheu“ vor künstlicher Befruchtung und zwar speziell, wenn es sich um lesbische Frauen handelt. Bei heterosexuellen Paaren hat sie eher Verständnis, es handelt sich also nicht um Technikkritik, die Technik ist ja in beiden Fällen dieselbe, sondern um Gesellschaftskritik.
In einem Interview in der FAZ hat Lewitscharoff noch einmal konkretisiert, was genau es ist, das sie für eine „katastrophale Entwicklung“ hält:
„Die Selbstermächtigung der Frauen. Ich finde, zu einem Kind gehört auch der Mann.“
Und weiter:
„Es geht mir wirklich auch darum, den Mann nicht zu beseitigen aus der Erziehung. Das ist mir wichtig. Ich finde, die Männer sind in unserer Gesellschaft stark im Rückzug begriffen, was Erziehungsfragen angeht. Das halte ich für schwierig.“
Diese Einschätzung ist ja nun ganz und gar erstaunlich, weil wir uns seit einiger Zeit doch mitten in einem riesigen Transformationsprozess zur Einbeziehung von Männern in „Erziehungsfragen“ befinden. Sowohl auf politischer Ebene (Vätermonate, neue Arbeitszeitmodelle), als auch auf gesellschaftlicher („Mehr Männer in Kitas“, organisierte Väterbewegungen, Feuilletonserien über Vaterschaftserfahrungen) wie auch auf individueller (heterosexuelle Paare, die sich bemühen, die Erziehungsarbeit aufzuteilen, Kampf schwuler Männer ums Adoptionsrecht).
Es ist also rundheraus falsch, dass Männer, was Erziehungsfragen betrifft, „stark im Rückzug begriffen“ wären, das genaue Gegenteil ist der Fall. Und zwar in einem Ausmaß, das lesbische Frauen mit Kinderwunsch ganz sicher nicht unterminieren können.
Was also hat Lewitscharoff im Kopf, wenn sie so etwas offensichtlich Irreales behauptet?
Als ich darüber nachdachte, fiel mir auf, dass es bei diesem Thema tatsächlich etwas gibt, das „im Rückzug begriffen“ ist, allerdings sind das nicht Männer generell, sondern eine ganz spezielle Sorte Mann: der typische Vater von früher. Während das Wort „Mutter“ heute mehr oder weniger noch dasselbe bedeutet wie vor hundert, zweihundert oder dreihundert Jahren, hat das Wort „Vater“ einen radikalen Bedeutungswandel hinter sich.
Was ist denn eine Mutter? Eine „Mutter“ ist eine Person, die für ein Kind die volle Verantwortung trägt. In sehr vielen Fällen (aber nicht notwendigerweise) ist diese Person identisch mit der Person, die das Kind geboren hat. Sie erledigt die für das Kind notwendige Care-Arbeit, vermittelt ihm die Welt, lehrt das Kind sprechen, und dafür verbringt sie einen Großteil ihrer nicht-erwerbstätigen Zeit gemeinsam mit dem Kind. Das ist, wohlgemerkt, eine phänomenologische Beschreibung „real existierender“ Mütter, keine normative Definition. Im konkreten Fall kann diese Person auch ein Mann sein oder jemand, die_der das Kind nicht selbst geboren hat, und es gibt natürlich auch Mütter, die von ihrem Kind getrennt leben. Aber die große Mehrzahl der Mütter, so behaupte ich, dürften sich mehr oder weniger in diesem Bild wiederfinden.
Und was ist ein Vater? Noch vor hundert Jahren war ein Vater ein Mann, der mit einer Mutter verheiratet war und durch diesen Status die Befugnis hatte, über Mutter und Kinder zu bestimmen und deren Rechte stellvertretend nach außen wahrzunehmen. Er war häufig, aber nicht notwendigerweise, auch der biologische Erzeuger der Kinder. In die notwendigen Erziehungsarbeiten war er im Alltag fast gar nicht involviert, fungierte aber als Autoritätsperson, die das letzte Wort hat („Warte nur, bis dein Vater nach Hause kommt!“). Er verbrachte nur wenig Zeit zusammen mit den Kindern, vielmehr hatte er meist einen eigenen Bereich, den die Kinder nur mit Erlaubnis betreten durften. Die Mutter hatte dafür zu sorgen, dass der Vater von seinen Kindern „nicht gestört wird“.
Ich behaupte mal, die Väter, die sich heute noch in dieser Beschreibung wiederfinden, lassen sich an einer Hand abzählen. Die meisten würden sich wahrscheinlich eher in dem wiederfinden, was ich oben über Mütter schrieb.
Betrachtet man diesen Bedeutungswandel des Wortes „Vater“, so wird deutlich, dass es sich tendenziell dem angenähert hat, was Muttersein schon immer bedeutete. Noch nicht unbedingt in der Realität – dass es mit der „aktiven Vaterschaft“ noch an vielen Ecken hapert und warum, muss ich hier ja nicht näher ausführen. Aber es ist doch klar, dass viele der heutigen „real existierenden Väter“ irgendwie in diese Richtung wollen, und die beteiligten Mütter übrigens auch. Manche vielleicht nur halbherzig, andere entschlossener, aber einige sind auch schon dort angekommen.
Wenn sich aber Väter nur noch dadurch von Müttern unterscheiden, dass sie die Kinder nicht selbst geboren haben (was ich übrigens keineswegs für einen trivialen Unterschied halte, aber für meine hiesige Argumentation fällt er nicht groß ins Gewicht), dann…
… ja, dann gibt es keinen logischen Grund mehr dafür, warum die Gruppe der Erwachsenen, die ein Kind „bemuttern“, sich unbedingt aus einer Frau und einem Mann zusammensetzen muss. Es können dann genauso gut zwei Frauen oder zwei Männer sein. Oder drei oder vier.
Der entscheidende Punkt ist hier, dass der patriarchale Vater nicht mehr gebraucht wird. Ich weiß nicht, ob er jemals „gebraucht“ wurde, aber zumindest hatte er früher eine gesellschaftliche Funktion. Die hat er heute nicht mehr. Sie ist in dem Moment obsolet geworden, als Frauen gleichberechtigt wurden, wo sie sich selbst nach außen vertreten und eigenes Geld verdienen konnten. Oder vielleicht sogar noch früher: in dem Moment, wo Frauen das patriarchale Familien-Arrangement nicht mehr akzeptierten und beschlossen, für ihre Gleichberechtigung zu kämpfen.
Sibylle Lewitscharoff hat also Recht, wenn sie eine „Selbstermächtigung der Frauen“ diagnostiziert. Aber diese Selbstermächtigung bezieht sich nicht darauf, einem technologischen Machbarkeitswahn zu frönen und dabei die Bedingtheit und Begrenztheit der Welt zu missachten (wie Lewitscharoff es ihnen vorwirft). Um es in Lewitscharoffs religiösem Bezugsrahmen auszudrücken, den sie ja ausdrücklich zu ihrer Rechtfertigung ins Feld führt: Frauen setzten sich mit ihrer Selbstermächtigung keineswegs selbst an die Stelle Gottes, sie lassen bloß nicht mehr zu, dass Männer sich (ihnen und ihren Kindern gegenüber) an die Stelle Gottes setzen.
Deshalb ist die Selbstermächtigung der Frauen, die unter sehr vielem anderem auch die In-Vitro-Fertilisation für lesbische Frauen mit Kinderwunsch brachte, auch keine Gefahr für die Welt und das Zusammenleben der Menschen. Es geht dabei nämlich gerade nicht um Machbarkeit und Ich-Bezogenheit, sondern um ein gutes Leben für alle, um gelingende Beziehungen.
Na klar gibt es einen medizinisch-pharmazeutischen Komplex und neoliberale Ideologen, die aus all dem Profit schlagen wollen, und es ist sehr wichtig, dies kritisch im Auge zu behalten (ein Bemühen, dem Lewitscharoff leider gerade einen Bärendienst erwiesen hat).
Es dauert immer eine Weile, bis ein so grundlegender Wandel wie das Ende des Patriarchats – und genau darum handelt es sich hier im genauesten Wortsinn – sich auch „herumspricht“, also in die symbolische Ordnung einer Gesellschaft eingeschrieben wird und auch die konkrete Realität sich entsprechend sichtbar ändert. Sibylle Lewitscharoff, so scheint es mir, gehört zu denen, die diese Veränderung nicht sehen (und sie ist ja wahrlich nicht die einzige). Sie sieht nur das Durcheinander, das dieser Wandel ebenfalls mit sich bringt, und sehnt sich daher zurück nach einer alten Ordnung. Die aber zum Glück nicht wiederkommen wird.
Denn, wie italienische Feministinnen schrieben: „Es ist passiert – nicht aus Zufall“.

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