Es scheint meiner Timeline zufolge irgendein Hartz IV-Jubiläum zu geben, jedenfalls häufen sich gerade die Texte darüber, warum dessen Einführung falsch war. Bei den vielen Argumenten fehlt mir jedoch eines, und meiner Ansicht nach das wichtigste, weshalb ich das an dieser Stelle mal kurz verblogge.
Das Schlimmste an Hartz IV, so meine ich, ist nicht seine absolute (zu geringe) Höhe, sondern die hinter dem Systemwechsel von dem alten Arbeitslosen-/Sozialhilfe-System zu Hartz IV stehende Logik des „Nur wer wirklich Hilfe braucht, soll welche bekommen.“
Ich erinnere mich mit an eine Diskussion, die ich damals mit einer den Grünen nahe stehenden Freundin hatte (nicht die böse CDU hat Hartz IV eingeführt, sondern das waren SPD und Grüne), die darin gerade einen Vorteil sah. Sie argumentierte ungefähr: Das alte System des Wohlfahrtsstaates ist zu teuer, wir müssen sparen, und deshalb soll das Geld, das wir haben, nicht mehr an Leute aus dem Mittelstand gehen, sondern konsequent nur an die Armen.
Das klingt auf den ersten Blick ja gut. Tatsächlich ging vor Hartz IV ein Gutteil der Gelder aus den Sozialkassen nicht an ganz Arme. Sondern wer arbeitslos wurde, bekam über die Arbeitslosenversicherung drei Jahre lang ein relativ okayes Leben weiterfinanziert – ich glaube, es waren ein Jahr lang 75 Prozent und weitere zwei Jahre 60 Prozent des letzten Nettoeinkommens. Und das alles ohne irgendeine Bedürftigkeitskontrolle.
Das heißt: Drei Jahre lang konnte der eigene Lebensstandard halbwegs gehalten werden, drei Jahre lang floss Geld, ohne dass man das, was man besaß – Haus, Auto, Zeugs generell – antasten musste.
Meine Freundin argumentierte nun so, dass damit viel Geld aus den Sozialversicherungen an Leute ging, die es „eigentlich gar nicht so dringend brauchen.“ Und in der Tat hat Hartz IV – jedenfalls zunächst mal – gerade die untere Mittelschicht getroffen. Die ganz Armen wurden im Vergleich zur alten Sozialhilfe sogar leicht besser gestellt. Ist das nicht Umverteilung von oben nach unten? Fragte mich meine Freundin.
Ja, auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick war es aber eine bedeutsame Verschiebung in der symbolischen Ordnung. Die Symbolik des alten Systems lautete: „Alle kann es mal treffen, und wenn es dich trifft, wirst du erstmal eine ganze lange Weile aufgefangen.“ Die Symbolik des neuen Systems aber lautete: „Es gibt welche, die Hartz IV brauchen, und welche die es nicht brauchen.“
Das hat das Lebensgefühl vor allem der Mittelschicht verändert. Denn die weiß jetzt ganz genau, dass sie niemals etwas aus den Sozialkassen bekommen wird. Weil sie nämlich erstmal Haus, Erspartes und so weiter aufbrauchen müsste, um Anspruch auf Hartz IV zu haben. Und wessen Lebenspartner_Lebenspartnerin Geld verdient, kriegt auch nix. Selbst das eine Jahr, für das es heute noch Arbeitslosengeld ohne Einkommenskontrolle gibt, ist inzwischen für Menschen mit halbwegs Qualifikation praktisch außer Reichweite: Irgendein Job findet das Arbeitsamt immer.
Was auf den ersten Blick gut klingt – dem Mittelstand Geld wegnehmen, den Armen geben – führte schleichend zu einer gesellschaftlichen Entsolidarisierung und zu einer Aushöhlung der Bereitschaft, in die Sozialkassen einzuzahlen. Die Sozialabgaben sind heute für breite Teile des Mittelstands nicht mehr eine Art „Versicherung“, in die sie einbezahlen in dem Wissen, dass sie im Fall des Falles davon aufgefangen werden. Sondern es wird empfunden als eine Abgabe „für die anderen da“, zu denen man selber aber ganz bestimmt nicht gehört.
Das Schlimme an Hartz IV ist also nicht, dass es so wenig ist, sondern das Schlimme ist, dass es Bedürftigkeit als Ausnahmefall definiert hat. Als etwas, das nicht alle Menschen betrifft (oder betreffen könnte), sondern nur spezielle Menschen, „die da“ eben, diese Hartzler. Die Einführung von Hartz IV hat einen Graben gezogen zwischen den „nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft“ (die ordentlich arbeiten und in die Sozialkassen einzahlen) und die „Überflüssigen“ (die man durchfüttern muss).
Dieser zunächst nur symbolische Graben hat im Lauf der vergangenen Jahre reale Ausformungen angenommen. Auf der einen Seite diejenigen, die wissen, dass es keine sozialen Netze mehr gibt, die ihren Lebensstandard im Falle des Falles wenigstens für eine Weile stützen würden. Auf auf der anderen Seite diejenigen, die keine Hoffnung mehr haben, jemals aus Hartz IV raus zu kommen (auch nicht für ihre Kinder). Und in der Mitte, und sie sind vielleicht am Schlimmsten dran, diejenigen, die auf der Kippe zwischen beidem stehen, und die bei ihrem Struggle keine solidarische Hilfe mehr bekommen, solange sie nicht beweisen können, dass sie nun wirklich „ganz unten“ angekommen sind.
In dem Zusammenhang leg ich euch gerne nochmal mein Küchengespräch mit Michaela Moser über Bedürftigkeit ans Herz.
Und auch unseren Artikel Bedürftigkeit aus dem ABC des guten Lebens.

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