Über die Geschlechterdifferenz denke ich ja schon ewig nach und über ihren Zusammenhang mit dem Schwangerwerdenkönnen seit einiger Zeit besonders. Kürzlich kam mir beim Lesen dieses Textes (pdf) von Muhammad Sameer Murtaza „Der Gender-Dschihad“ eine weitere Idee. Und zwar so:
Murtaza setzt sich ausführlich mit der koranischen (die biblische ist ähnlich) Beschreibung Gottes als „Barmherzigkeit“ auseinander. Das Wort hat dieselbe Wurzel wie „Gebärmutter“ und beschreibt also Gott auf eine gewisse Weise als mütterlich, umsorgend. Das Thema ist in der feministischen Theologie schon lange diskutiert worden: Es gibt in allen drei monotheistischen „Buchreligionen“ (Judentum, Christentum, Islam) sehr unterschiedliche Gottesbilder, und eines davon ist eben dieses. Murtazas argumentiert nun, dass Frauen deshalb für die Religion (in seinem Fall den Islam) sehr wichtig sind, weil sie diese Qualität Gottes verkörpern:
So lässt sich eine Analogie ziehen, also eine Ähnlichkeit bei noch größerer Unähnlichkeit, zwischen der göttlichen Barmherzigkeit und dem Schöpfungsakt auf der einen Seite und auf der anderen Seite zur Nächstenliebe und der Fähigkeit der Frau zu Gebären. Gerade in der Pflege der Leibesfrucht lernt die Frau auf eine besondere und tiefe Weise, ihre liebende Sorge über die Grenzen des eigenen Ichs auf eine andere Person auszustrecken und auf die Erhaltung und Unversehrtheit dieses fremden Menschen zu richten. Diese Liebe, diese Fürsorge, dieses Verantwortungsbewusstsein für ein anderes Wesen, vermag uns einen Hauch eines Verständnisses von der göttlichen raḥma zu schenken, das sich in der Gott-Mensch-Beziehung … zeigt.
Bis dahin könnte ich das unterschreiben, denn die Erfahrung des „Zwei in Eins“, der unmittelbaren, in den eigenen Körper eingeschriebenen Verantwortung für ein anderes menschliches Wesen, machen eben nur Schwangere, und warum nicht darin ein Bild nehmen, das – ungenügend wie alles, was sich über Gott sagen lässt – hier eine Analogie zu dem Umhegtsein der Menschen durch das Göttliche sieht.
Allerdings bleibt es nicht dabei, sondern Murtaza fährt folgendermaßen fort – und ich zitiere das hier nicht, weil es einzigartig ist, sondern weil so ähnlich auch von jüdischen und christlichen Theologen und auch von säkularen Philosophen argumentiert wurde und wird (jedenfalls an dem Punkt, der mich hier interessiert): nämlich wie sich der Mann und das Männliche zum Schwangerwerdenkönnen der Frauen* (Frauen hier mit Sternchen, weil Frausein und Schwangerwerdenkönnen nicht deckungsgleich sind) in Beziehung setzen. Er schreibt:
Neben der Barmherzigkeit kommt auch dem Gottesnamen der Gerechte, al-ʿadl eine zentrale Bedeutung zu. Die Gerechtigkeit (ʿadl) bezeichnet das kosmologische Ordnungsprinzip der Schöpfung und kann als männlicher Zug im Gott-MenschVerhältnis verstanden werden. Die Gerechtigkeit Gottes und Seine Barmherzigkeit sind keine entgegengesetzten Begriffe, sondern sie wirken gemeinsam, um die Schöpfung zu bewahren. Übertragen wir dies nun auf das Geschlechterverhältnis, so sind sowohl das Patriarchat wie auch das Matriarchat einseitige Gesellschaftsentwürfe. Sich Gott anzunähern, bedeutet sich zu einem Gesellschaftsverständnis durchzuringen, das von einem partnerschaftlichen Verständnis von Mann und Frau geprägt ist. Die Frauen besitzen einen besonderen Einblick in die Tiefendimension der göttlichen raḥma, während die Männer einen besonderen Zugang zum Verständnis der göttlichen Gerechtigkeit besitzen. Beide Geschlechter benötigen demnach, da wir nur gemeinsam zu einer tieferen Ahnung von Gott gelangen.
Aus der faktischen Differenz zwischen Menschen, die eventuell schwanger werden können (Frauen*) und Menschen, die es mit Sicherheit nicht können (Männer*) konstruiert Murtaza also eine komplementäre Differenz: Dem besonderen weiblichen* Einblick in die Barmherzigkeit wird ein männlicher besonderer Zugang zur Gerechtigkeit komplementär gegenüber gestellt, nach dem Motto „Die einen können das und die anderen können das“, und beides ergänzt sich gegenseitig. Genau dies ist die Grundlage für das männliche dualistische Denken in Gegensätzen, die sich aus Mann-Frau heraus durch unsere gesamte Kultur ziehen.
Dem liegt aber ein entscheidender Denkfehler zugrunde, und zwar nicht nur der offensichtliche, von Feministinnen auch schon ewig kritisierte, dass natürlich sich aus der Tatsache, dass manche_viele Frauen schwanger werden nichts über Frauen generell sagen lässt, denn ich zum Beispiel war nie schwanger und habe daher ebenso wenig besonderen Zugang zur göttlichen raḥma wie ein Mann, der nicht schwanger wird. Und trotzdem bin ich eine hundertprozentige Frau.
An dieser Stelle will ich vielmehr auf einen anderen Denkfehler hinaus, der mir noch gravierender erscheint, und zwar die Vorstellung, dass eine Differenz zwischen Haben und Nicht Haben (die Erfahrung einer Schwangerschaft) eine Differenz zwischen Etwas Haben und Etwas Anderes Haben (Zugang zu Barmherzigkeit auf der einen Seite, Zugang zu Gerechtigkeit auf der anderen) wird.
Das aber ist ein logischer Fehlschluss, denn aus der Tatsache, dass jemand etwas nicht hat (zum Beispiel die Fähigkeit, schwanger zu werden), folgt ja keineswegs, dass man deshalb automatisch etwas anderes hat, und schon gar nicht, dass dieses andere das erste komplementär ergänzt. Und genauso wenig folgt aus der Tatsache, dass jemand etwas hat (zum Beispiel die Erfahrung einer Schwangerschaft), dass sie deshalb etwas anderes nicht hat (eine besondere Affinität zur Gerechtigkeit).
Jemand, der kein Auto hat, hat deshalb nicht automatisch ein Fahrrad, und jemand, der ein Auto hat, hat deshalb möglicherweise trotzdem auch noch ein Fahrrad. Ob Menschen schwanger werden können oder nicht, sagt rein gar nichts über ihre vorhandene oder nicht vorhandene Affinität zur Gerechtigkeit aus. Es gibt Menschen, die sind gerecht und barmherzig, und es gibt Menschen, die sind weder das eine noch das andere. Und es gibt Menschen, die sind das eine, aber das andere nicht.
Der Grundfehler in der Art und Weise, wie eine männliche Philosophie die Geschlechterdifferenz interpretiert, liegt darin, dass sie nicht als Differenz stehen gelassen und bestaunt wird, sondern dass man sie universalistisch im Hinblick auf ein imaginiertes Ganzes einhegt. Die Interpretation der Geschlechterdifferenz als komplimentäres Gegenüber ist eine willkürliche Interpretation, sie hat keine logische Grundlage.
Vielleicht liegt das ja tatsächlich an einer Art Gebärneid, oder an verletzter Eitelkeit, so nach dem Motto: Es kann doch nicht sein, dass die Frauen* an dieser Stelle etwas haben und die Männer – nichts. Leider ist aus diesem logischen Fehlschluss aber eine riesige symbolische Unordnung entstanden, die sich bis in die letzten Verästelungen unserer Kultur verbreitet hat und auf alle Lebensbereiche verheerend auswirkt.

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