
Am 8. März war ich bei WDR5 als Studiogast eingeladen, um mit Hörerinnen und Hörern über das allseitige Dauerbrenner-Thema „Feminismus – brauchen wir den noch?” zu diskutieren. Eine Frage geht mir seither besonders im Kopf herum.
Unter den Anrufern war ein Lehrer, der sich darüber beklagte, dass in Schulbüchern neuerdings nur noch Frauen und Mädchen vorkämen, und dass die Jungen überhaupt keine Vorbilder mehr hätten. Das Beispiel, das er erzählte, war Folgendes: Im Englischbuch war von einem Raumschiff die Rede, und er dachte: Endlich mal was, das auch die Jungen interessiert! Aber dann kam „The Captain” und „she” tat dies und das. Also wieder eine Frau, wieder eine Zurückweisung für die Jungen, wieder keine Möglichkeit zur Identifikation!
Das Beispiel ist natürlich in mancherlei Hinsicht schwach: Erstens bin ich nicht so sicher, dass in heutigen Schulbüchern wirklich nur noch Frauen vorkommen und keine Männer (vielleicht kann das ja mal jemand durchzählen und in den Kommentaren posten?). Und zweitens ist ein weiblicher Raumschiff-Captain seit Kathryn Janeway ja nichts Außergewöhnliches mehr, oder anders: Dass Geschlechterbilder in Schulbüchern nicht die typischen Klischeerollen wiederholen, sollte uns doch eigentlich freuen.
Aber diese offensichtlichen Schwächen in der Argumentation sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier ein in der Tat wichtiges Problem angesprochen wurde. Mit der Sorge um die Benachteiligung von Jungen in der Schule steht dieser Hörer ja nicht alleine da, es ist nicht zufällig eines der heutigen Top-Themen in punkto Geschlechterverhältnis. Und es ist ein, wie ich finde, sehr wichtiges Thema.
Woran aber liegt die Benachteiligung der Jungen, wodurch kommt sie zustande?
Das Problem liegt meiner Ansicht nach nicht daran, dass Jungen heute mit vielen Frauen konfrontiert sind (sei es als Lehrerinnen oder als Figuren in Schulbüchern). Denn diese Tatsache wird für die Jungen doch nur deshalb zum Problem, weil sie sich mit Frauen bzw. weiblichen Protagonistinnen nicht (oder nur schlecht) identifizieren können. Und dies liegt wiederum daran, dass wir kulturell immer noch mit jenem patriarchalen Erbe zu kämpfen haben, in dem das Männliche das Normale und das Weibliche das Andere, das Defizitäre war.
Es ist doch auffällig, dass Mädchen überhaupt kein Problem damit haben, sich mit männlichen Protagonisten zu identifizieren, sie sich zum Vorbild zu nehmen, und von Männern etwas zu lernen. Mädchen und Frauen sind in unserer Kultur sozusagen zwangsweise Meisterinnen darin, zwischen „Ich-Frau” und „Ich-Mensch” hin- und her zu switchen. Sie lernen von klein auf, dass sie zwar einerseits „Mensch” sind, also normal, andererseits aber „Frau”, also anders. Deshalb können sie sich sowohl als Frau, als auch als Mensch verstehen – und sind entsprechend flexibel, wenn es darum geht, Vorbilder zu finden.
Ein Beispiel von mir selbst: Bei der Lektüre der Winnetou-Romane von Karl May habe ich mich als Jugendliche sowohl mit Old-Shatterhand (dem Ich-Erzähler) als auch mit Nscho-tschi (Winnetous Schwester und weibliche Hauptfigur) identifiziert. Ich hatte sozusagen eine gespaltene Identität: Als Shatterhand war ich in Winnetou verliebt, als Nscho-tschi in Shatterhand. Und das fand ich keineswegs kompliziert, weil ich es gewohnt war, sowohl Frau als auch Mensch zu sein, das heißt, mich sowohl mit Frauen als auch mit Männern zu identifizieren, wenn ich dort etwas Lernenswertes vermutete.
Ähnlich ging es mir mit den Schulbüchern, die damals im Hinblick auf Frauen- und Männerrollen noch weitgehend klischeehaft waren und in denen alle wichtigen Positionen von Männern repräsentiert wurden. Das hielt mich keineswegs davon ab, so gut wie möglich von ihrem Vorbild zu profitieren.
Das Problem der Jungen ist nun heute, dass sie es nie gelernt haben (wie vielleicht die Männer überhaupt), Frauen nicht nur in ihrer Qualität des Anders-Seins wahrzunehmen, sondern in ihrer Qualität des Menschseins. Sie haben dieses flexible Hin- und her Switchen nicht gelernt. Sobald sie eine Frau sehen, eine weibliche Protagonistin in einem Schulbuch etwa, identifizieren sie sie als „Nicht-Ich”, als „Andere” – und damit taugt sie natürlich nicht mehr als Vorbild. Sie können nichts von ihrem Beispiel lernen, weil sie das nicht auf sich selbst beziehen.
Damit sind die Jungen natürlich in einer emanzipierten Welt, in der Frauen wichtige und maßgebliche Positionen einnehmen, den Mädchen gegenüber in einem großen Nachteil: Denn die Mädchen können, etwas überspitzt gesagt, sowohl von Frauen als auch von Männern lernen, Jungen hingegen nur von Männern.
Leider ist die Art und Weise, wie dieses Problem öffentlich diskutiert wird, nicht gerade hilfreich, um es zu lösen, im Gegenteil. Wenn etwa davon die Rede ist, dass die große Zahl an Lehrerinnen und Erzieherinnen Schuld wäre am schulischen Misserfolg von Jungen, dann liegt diesem Argument eine latente Abwertung weiblicher Autorität zugrunde. Sie hilft den Jungen also gerade nicht, vom Wissen der Lehrerin zu profitieren, sondern bietet im Gegenteil einen weiteren Anknüpfungspunkt, ihr die Autorität zu entziehen.
Das heißt nicht, dass gegen mehr Männer in Grundschulen und Kitas etwas einzuwenden wäre. Männliche Vorbilder und Erziehungspersonen könnten den Jungen nämlich vorleben, dass auch sie nicht einfach nur „normal”, sondern auch „anders” sind – und das ist ein erster Schritt dazu, zu erkennen, dass auch die „anderen”, also die Frauen, nicht nur anders, sondern gleichzeitig normal sind. Problematisch wird nur, wenn dieses Thema so diskutiert wird, dass Jungen unbedingt männliche Vorbilder bräuchten, um überhaupt etwas lernen zu können. Denn genau in diesem Missverständnis liegt die Ursache ihres Problems.
Die Benachteiligung von Jungen in den Schulen kann nur beendet werden, wenn wir ihnen helfen, dass sie auch in weiblichen Personen Vorbilder für sich selbst sehen können. Wenn sie lernen, dass auch die Frauen, die aus ihrer Sicht „anderen“ also, für das allgemein Menschliche stehen, und es sich deshalb lohnt, ihnen zuzuhören und sich für das, was sie tun zu interessieren. Weil darin nämlich möglicherweise auch für sie selbst, die Jungen, etwas Lehrreiches steckt. Aber das ist natürlich ein Projekt, das nicht nur auf die Schule bezogen ist, sondern auf die Gesellschaft allgemein.


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