Okay, eigentlich ist der Ärger über die jüngsten Äußerungen von Thilo Sarrazin schon groß genug, aber weil das Thema Demografie eins meiner Lieblingsthemen ist, möchte ich nun noch ein paar Anmerkungen hinzufügen.
Sarrazin, Bundesbank-Vorstand und SPD-Politiker, hat Zeitungsmeldungen zufolge gesagt, „die Deutschen“ würden „verdummen“, weil Kinder von „aus der Türkei, dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika“ eingewanderten Familien weniger Bildung hätten als bio-deutsche und diese Familien zudem überdurchschnittlich viele Kinder bekämen. Es geht dabei weniger um Rassismus (er hat ja nicht gesagt, dass es an ihren Genen liegt, zumindest könnte er ebenso gut die kulturellen Hintergründe gemeint haben), sondern um Demografie – nämlich um die Zusammensetzung der Bevölkerung und ihren Einfluss auf die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung.
Dass Demografie in Deutschland überhaupt ein Thema ist, ist ein relativ junges Phänomen. Nach der rassistischen Selektionspolitik der Nazis – Menschen „jüdischer“ Herkunft umbringen, Menschen „arischer“ Herkunft zum Kinderkriegen animieren – hat man das Thema in den Nachkriegsjahrzehnten vorsichtshalber links liegen lassen. Erst als das Statistische Bundesamt 2003 eine Prognose veröffentlichte, wonach die Bevölkerung in Deutschland in den kommenden Jahrzehnten deutlich veraltern wird, flammten plötzlich aufgeregte Demografiedebatten auf, und zwar unter dem Fokus: Woher kriegen wir mehr Kinder?
Die Antwort ist einfach: Nirgendwoher. Die Fertilitätsrate in Deutschland liegt seit etwa 35 Jahren (seit dem „Pillenknick“ Mitte der 1970er) ziemlich stabil bei ungefähr 1,5 Kindern pro Frau. Was sinkt, das ist die Geburtenrate, also die Zahl der pro tausend Einwohner_innen geborenen Kinder. Der Grund dafür ist aber nicht, dass Frauen plötzlich weniger Kinder bekämen, sondern dass der Anteil der Frauen im gebärfähigen Alter kleiner wird: Wenn der Altersdurchschnitt der Bevölkerung ansteigt, sinkt die Geburtenrate zwangsläufig.
Alle gut gemeinten Maßnahmen für „mehr Kinder“ wie etwa das Elterngeld können dagegen nichts ausrichten. Die wenigsten Menschen machen nämlich so eine weit reichende und existenzielle Frage wie die, ob (und wie viele) Kinder sie haben wollen, von ein paar hundert Euro abhängig oder davon, ob es einen Krippenplatz gibt. Das soll nicht heißen, dass solche Maßnahmen nicht wünschenswert wären, das sind sie aus hunderterlei Gründen. Man sollte sich nur nicht der Illusion hingeben, damit die Zahl der Geburten nennenswert steigern zu können.
Die Frage, wie viele Kinder Menschen bekommen, ist ein sehr komplexer kultureller Faktor. Der Hauptgrund für die niedrigen Kinderzahlen in Deutschland (wie in der westlichen Welt überhaupt) liegt darin, dass Kinder hier nicht selbstverständlich zum Leben dazu gehören. Die Entscheidung für ein Kind – und zwar für jedes Kind neu – will gut überlegt sein muss bewusst getroffen werden. Und das ist kein neues Phänomen, sondern bereits hundert Jahren alt. Der entscheidende „Geburtenknick“ in Deutschland fand nämlich weder in den 1970ern noch gar in letzter Zeit, sondern bereits zwischen 1910 und 1920 statt: Damals sank in nur einem Jahrzehnt die durchschnittliche Kinderzahl von über fünf auf nur noch zwei Kinder pro Frau.
Diese Mentalität der bewussten Familienplanung ist übrigens in allen westlichen Industrieländern ähnlich – allerdings doch mit einer kleinen Tendenz: In Ländern mit faschistischer oder nationalsozialistischer Vergangenheit (Deutschland, Österreich, Griechenland, Italien, Spanien) liegt die Fertilitätsrate signifikant niedriger als in Ländern ohne eine solche (Frankreich, England, Skandinavien, USA). Diese Verteilung zeigt im Übrigen auch, dass solche tiefen kulturellen Muster mehr Bedeutung für das Geburtenverhalten haben als staatliche Interventionen: Nicht nur in gut ausgebauten Sozialstaaten wie Skandinavien und Frankreich werden verhältnismäßig viele Kinder geboren, sondern auch in Ländern wie England und USA, wo soziale Förderung praktisch nicht existiert.
Und auch traditionelle Prägungen aus Kulturen mit viel höheren Kinderzahlen, wie sie zum Beispiel durch Migrationsbewegungen (aus Afrika oder dem mittleren Osten) zu uns kommen, richten gegen diese tiefen kulturellen Muster kaum etwas aus. Vor allem an diesem Punkt irrt sich Sarrazin nämlich: Die Kinderzahl immigrierter Familien gleicht sich schon nach einer, spätestens nach zwei Generationen der deutschen an.
Das heißt: Mehr Kinder werden es nicht werden, da kann man jammern, so lange man will. Es wäre also nur vernünftig, sich möglichst rasch von der Illusion zu verabschieden, durch politische Maßnahmen die „richtigen“ (deutschen, bürgerlichen, angepassten) Familien zum Kinderkriegen animieren zu können. Verantwortliche Politik hat angesichts der demografischen Entwicklung nur ein Mittel zur Verfügung: Sie muss alle nur denkbaren Anstrengungen unternehmen, um allen Kinder, die hier leben, die bestmögliche Förderung zukommen zu lassen. Denn unsere Zukunft hängt nun einmal davon ab, dass sie ihre Talente und Fähigkeiten so gut wie möglich entwickeln.
Ob es dafür hilfreich ist, ihnen zu erzählen, sie wären ja sowieso dümmer als andere? Bekanntlich leistet sich Deutschland eines der selektivsten Schulsysteme der westlichen Welt. Nirgendwo sonst gibt es so viele Kinder aus Migrationsfamilien ohne Abschluss. Selbst wenn es sein mag, dass sie von ihren Eltern nicht immer dieselbe Förderung erhalten, wie wir es als deutschen Mittelschichtsstandard gewohnt sind – umso wichtiger wäre es doch, dafür zu sorgen, dass ihnen ihre Herkunft nicht zum Nachteil wird.
Denn das ist ein Punkt, den Sarrazin und diejenigen, die ihm applaudieren, offenbar übersehen: Nicht die „Migrantenkinder“ brauchen uns. Wir brauchen sie.


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