Es wird viel darüber geredet, wie mobiles Internet und die jederzeitige Erreichbarkeit der Menschen über Smartphones sich auf das Leben auswirkt. Oft ist dabei von Befürchtungen die Rede, viele fühlen sich gestresst dadurch, dass sich starre Grenzen zwischen „Arbeitszeit“ und „Freizeit“ auflösen. Man müsse heutzutage jederzeit verfügbar sein, wird geklagt.
Ich denke, das liegt daran, dass wir das, was sich da verändert, noch nicht richtig nutzen. Dass die alten Konzepte von „Arbeit“, die im Industriezeitalter entstanden sind, noch immer in unseren Köpfen herumkreisen. Ich denke, dass es möglich ist, die neuen Möglichkeiten so zu nutzen, dass daraus eine Befreiung von alten, überflüssigen Zwängen wird. Einfach deshalb, weil es bei mir so ist.
Eben zum Beispiel hatte ich eine Stunde Aufenthalt in Braunschweig, weil ich den Anschlusszug verpasst habe. Früher hätte ich mich darüber sehr geärgert: eine Stunde geklaute Lebenszeit, in der ich herumstehe und zum Nichtstun verdammt bin. Meine Termine und Vorhaben für den Nachmittag wären gefährdet gewesen, es wäre in Stress ausgeartet. So setzte ich mich ins Café, klappte das Notebook auf und redigierte ein paar Texte für die Zeitung, bei der ich arbeite. Ich machte genau dasselbe, wie ich ansonsten nachher im Büro gemacht hätte, nur eben wann anders und wo anders.
Oder neulich, als ich am Sonntagmorgen aus unerfindlichen Gründen um sieben Uhr glockenhellwach war. In der Wohnung Stille, es war klar, in den nächsten zwei Stunden würde ich keine Frühstücksgesellschaft haben. Also kochte ich mir einen Kaffee, machte es mir im Bett gemütlich und widmete mich den Mails, die in den vergangenen Tagen zu kurz gekommen waren. Als dann am Montag herrlichster Sonnenschein war, fuhr ich den Computer nach der ersten Stunde Neuigkeiten-Checken gleich wieder runter, setzte mich aufs Fahrrad und fuhr in der Gegend herum. Unerreichbar für alle.
Sicher ist meine Arbeitssituation ein wenig besonders, weil ich – auch in meiner „festangestellten“ Seite – hauptsächlich projektbezogen arbeite. Also Dinge tue, die relativ zeit- und ortsunabhängig sind und keine anderen Arbeitsmittel benötigen als eben einen Computer mit Internetzugang. Aber der Anteil dieser Tätigkeiten am Gesamtarbeitsvolumen steigt, und würden die technischen Möglichkeiten des mobilen Internets konsequent angewandt, könnte er wahrscheinlich noch viel größer sein, als er derzeit ist. Viele fragen sich aber: Ist das wünschenswert?
Ich sage: definitiv. Allerdings ist es dafür notwendig, sich von dem alten Konzept von „Arbeit“ zu verabschieden. Dieses Konzept sah eine klare Menge dessen vor, was ein Mensch zu tun hatte. Vierzig Stunden. Nine to five. In diesem Büro, in dieser Lagerhalle. Soundsoviel Menge Arbeitskraft für soundsoviel Geld, und das unabhängig von den Notwendigkeiten, dem Sinn, den persönlichen Befindlichkeiten.
Überhaupt die Befindlichkeiten. In der alten Logik gab es nicht nur eine klare Grenze zwischen „Arbeit“ und „Freizeit“, sondern in deren Gefolge auch eine klare Grenze zwischen „Gesund“ und „Krank“ – entscheidend dafür war der Stempel vom Arzt.
Bei mir gibt es zwischen diesen beiden Zuständen aber jede Menge dazwischen. Es gibt Tage, da fühle ich mich stark wie ein Ochse und schaffe ein ganzes Wochenpensum weg. An anderen Tagen bin ich lustlos und duddele unproduktiv vor mich hin, aber natürlich würde kein Arzt mich dafür krankschreiben. Manchmal bin ich auch „richtig“ krank, etwa mit einer Grippe, aber deshalb noch keineswegs unfähig, irgendetwas zu tun. Ein paar Mails lesen kann ich durchaus, oder telefonisch Dinge delegieren und Termine verlegen. Oder dieses Buch lesen, zu dem ich vor lauter Arbeitswut in den Wochen zuvor nicht gekommen war.
Mir kommt ein Vergleich für meine Art zu „arbeiten“ in den Kopf: die klassische Hausfrau. Auch die konnte sich nicht krank schreiben lassen – oder nur in Extremfällen. Auch die hatte keine geregelten Arbeitszeiten, sondern war rund um die Uhr im Einsatz und erreichbar, vor allem, wenn auch Kinder zu ihrem Haushalt gehörten. Auch ihre Arbeit hörte niemals auf, war niemals erledigt, irgendetwas gab es immer zu tun. Wie hat sie das eigentlich gemacht?
Vielleicht kommen wir weiter, wenn wir den Begriff der „Arbeit“ durch den des „Tätigseins“ ersetzen. Anstatt von der „Arbeit“ auszugehen, die mir von anderen (dem „Arbeitgeber“) aufgetragen wird und die zu verrichten ich mich verpflichtet habe, gehe ich von mir und meinen Möglichkeiten aus, etwas zu tun. Ich tue das, was ich kann und will, und dann sehen wir ja, wie viel „Getanes“ dabei herauskommt.
Dies ist die einzige Haltung, so meine ich, die uns in der Flut der möglichen Dinge, die nach uns schreien, nicht untergehen lässt. Ich kann nicht alles lesen, ich kann nicht alles tun, was wünschenswert ist, ich kann nicht die ganze Welt retten. Aber ich kann meinen Kräften entsprechend in dieser Welt tätig sein.
Das bedeutet nicht einfach nur Spaß und Lust und Laune. Ein wichtiger, eigentlich der entscheidende Faktor ist dabei natürlich die Notwendigkeit. Wenn meine Nachbarin sich das Bein bricht und ins Krankenhaus gebracht werden muss, und ich bin die einzige, die da ist, muss ich das machen, egal ob ich grade müde oder in ein spannendes Buch vertieft bin. Wenn ich jemandem etwas versprochen habe (zum Beispiel, dann und dann einen Vortrag zu halten oder ein Manuskript abzugeben), dann muss ich das einhalten.
So jedenfalls verstehe ich meine Aufträge, auch als festangestellte Redakteurin: Nicht als Verpflichtung, zu der mich ein „Arbeitgeber“ zwingt, sondern als Versprechen, das ich anderen Leuten gegeben habe und das ich mich daher auch einzuhalten bemühe. Nicht mehr Aufträge annehmen als ich realistischerweise abarbeiten kann, bedeutet auch einen sorgsamen Umgang damit: Man darf nicht Sachen versprechen, die man nicht halten kann.
Es gibt also zwei Kriterien für mein Tätigsein: Die Notwendigkeiten der Welt (etwas muss getan werden) sowie das Versprechen, das ich gegeben habe (jemand verlässt sich auf mich). Beides ist aber nichts Neues. Das ist schon immer Maßstab des menschlichen Tätigseins gewesen, nicht nur lange vor der Erfindung des mobilen Internet, sondern auch schon lange vor dem Industriezeitalter. Das moderne Verständnis von „Arbeit“ hat diese natürlichen Grundlagen von menschlichem Tätigsein eher behindert und durch starre Verträge, Zeitregimes und so weiter ersetzt. Sodass Menschen auch Sinnloses taten, weil irgendwer ihnen die entsprechende Anweisung gab, und dass Menschen Versprechen nicht eingelöst haben, weil irgendeine gesetzliche Regelung es ihnen ermöglichte, sich zu drücken.
Vorschlag: Die Grenze, der wir unsere Aufmerksamkeit widmen sollten, ist nicht die zwischen „Arbeit“ und „Freizeit“, sondern die zwischen „Tätigsein in der Welt“ und „Zurückgezogenheit von der Welt“. Die Welt ist immer da und wartet auf mein Mitwirken, sowohl die analoge als auch die, zu der mir das Internet Zugang gewährt. Aber ich bin nicht ständig aktiv. Ich bin nicht immer öffentlich präsent, ich ziehe mich manchmal zurück, schalte ab, bin im Privaten. Weil das Wetter schön ist, weil ich schlapp bin, weil eine alte Freundin zu Besuch kommt, weil ich mit einem Kind spiele oder weil ich bloß grade keine Lust habe und auch nichts Dringendes anliegt. Dann ist die Welt natürlich trotzdem da, und ich verpasse für eine Weile, was da geschieht. So what. Die Welt dreht sich auch ohne mich, zum Glück.
Die Voraussetzung dafür, dass das klappt, ist eine neue Vorstellung von „Echtzeit“. Alles Wesentliche passiert im Hier und Jetzt. Ich mag es deshalb nicht, wenn man mir Nachrichten und Aufträge „hinterlässt“. Ich bin in der Gegenwart präsent, und es belastet mich, wenn sich Unerledigtes anhäuft. Überflüssiges Unerledigtes.
Das Unerledigte ist nämlich selber ein Phänomen der alten industriellen Arbeitsstrukturen: Um fünf Uhr fiel der Hammer, und weitere eingehende Anliegen hatten bis zum nächsten Morgen um Neun zu warten. Sie sammelten sich an, das schöne Bild vom Berg gestapelter Akten. Mein persönlicher Horrorapparat für diese Art der Anhäufung von Unerledigtem ist der Anrufbeantworter. Eine ebenbürtige Nachfolgerin ist natürlich längst die E-Mail. Beides – E-Mails und Nachrichten auf dem Anrufbeantworter – haben bei mir ziemlich schlechte Karten, denn sie stehlen mir Freiheit. Ich widme mich ihnen nur, wenn sie wirklich ganz dringlich sind, oder wenn ich Sonntagsmorgens mal zu früh aufwache. Ansonsten behandle ich sie wie Echtzeit-Kontakte: Entweder ich bearbeite sie sofort, also dann, wenn ich sie zum ersten Mal lese oder höre, oder sie rutschen immer weiter nach hinten und geraten in Vergessenheit.
Die Hausfrau früher hatte ja auch keine E-Mail und keinen Anrufbeantworter. Sie war da oder nicht, und wer etwas von ihr wollte und sie nicht persönlich antraf, musste eben später wiederkommen. Und so könnten wir das auch heute wieder handhaben: Wer potenziell rund um die Uhr präsent ist, kann nicht auch noch jede Menge Unerledigtes in der Pipeline haben – denn das ist es, was den Stress erzeugt.
Auf diese Weise – mit einer langen Liste von Unerledigtem – mag ich nicht mehr leben. Ich will so nicht arbeiten. Ich will übrigens gar nicht arbeiten. Ich will tätig sein, hier und jetzt, eintauchen in die Welt um mich herum oder in meinen Timelines, in den Strom der Neuigkeiten und Menschen, die Gespräche und Ideen. Ich möchte meine gegebenen Versprechen einlösen oder mich den Notwendigkeiten zuwenden, die auf mein Aktivwerden warten, aber nicht irgendwelche Verträge erfüllen. Ich möchte etwas beitragen zu dieser Welt, und nicht Aufgaben abarbeiten.
Früher nannte man genau das mal „Leben“.


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