Schon länger lag auf meinem Lesestapel der Aufsatz „Racial Liberalism“ von Charles W. Mills. Darin geht es um die Frage, inwiefern das westliche Konzept des Liberalismus nicht, wie seine Protagonisten denken, universalistisch ist, sondern dass es vielmehr das „Weißsein“ als Normalität setzt.
Mills Denken interessiert mich, weil er im Anschluss an Carol Pateman (und in Zusammenarbeit mit ihr) deren These vom „Sexual Contract“ in Bezug auf „Race“ weiterdenkt. Carol Pateman hat in ihrem 1988 erschienenen Buch gezeigt, wie die westliche bürgerliche Gesellschaft grundlegend auf dem Ausschluss von Frauen und ihrem Verweis in eine unsichtbare „weibliche“ Sphäre beruht. Ihr Buch war nicht nur ein Meilenstein, was die Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und ihrer historischen Wurzeln betrifft, sondern vor allem ist es wichtig, weil es verstehen hilft, warum zum Beispiel die staatlichen Gleichstellungs- und Emanzipationsbemühungen so schleppend vorankommen und oft geradezu schädliche statt positive Folgen haben (zum Beispiel in Bezug auf die Verschlechterung der Rahmenbedingungen für Care-Tätigkeiten): Wenn es stimmt, dass die gesellschaftliche Organisation – zum Beispiel des Kapitalismus, der Parlamente, der Wissensproduktion usw. – von ihrem System her auf dem Vorhandensein einer „weiblichen“ Gegensphäre gründet, kann es natürlich nicht funktionieren, diese Sphäre einfach aufzulösen und zu sagen, Frauen sollen dasselbe machen wie Männer.
Charles Mill hat daran anknüpfend 1995 das Buch „The Racial Contract“ geschrieben, in dem er zeigt, dass auch die Differenz von „Rassen“ nicht einfach ein zufälliger Begleitumstand oder ein Betriebsunfall bei der Entstehung bürgerlicher Gesellschaften nach westlichem Muster war, sondern für diese konstitutiv.
Dass bürgerliche Gesellschaften nicht funktionieren, wenn wirklich alle Menschen in ihnen „gleich“ sind, sondern dass sie darauf angewiesen sind, bestimmte Menschen als „andere“ auszusortieren und dementsprechend auch „anders“ zu behandeln (ihnen zum Beispiel weniger Rechte, weniger Fürsorge und so weiter zuzugestehen), sehen wir ja momentan an den Debatten über den Umgang mit Geflüchteten. Menschen in anderen Teilen der Welt sind sich dieses doppelten Maßstabs westlicher Gesellschaften beim Reden über „universale Menschenrechte“ ziemlich bewusst. Dass sich die Idee der Menschenrechte nicht besser durchsetzt als sie es tut, liegt nicht daran, dass die „Unzivilisierten“ diese Idee nicht verstünden, sondern daran, dass sie nur allzu oft sehr genau merken, dass der Westen sich an seine eigenen Ideale meistens selber nicht hält (sondern zum Beispiel nur so lange, wie ihm das keine ökonomischen Nachteile bringt).
Viele glauben, dass diese Doppelzüngigkeit des Westens daher kommt, dass wir eben alle nur Menschen sind. Dass wir sozusagen moralisch versagen, wenn es uns an den Geldbeutel geht, dass wir unsere eigenen hochgesteckten Ziele aufgrund aller möglichen Schwächen nicht erreichen.
Mills stellt hingegen die These auf, dass diese Ungerechtigkeiten keineswegs ein Versagen dieser Prinzipien darstellen, eine Abweichung von ihnen, sondern dass sie vielmehr strukturell in ihnen verankert sind. „Racism is not an anomaly in an unqualified liberal universalism but generally symbiotically related to a qualified and particularistic liberalism.”
Nicht nur waren Vordenker der liberalen Tradition wie Locke und Kant direkt involviert: Locke investierte in die Sklaverei, Kant entwickelte selbst rassistische Konzeptionen von Menschsein (Dazu hier ein eigener Aufsatz von Mills). Bis heute ist die Beschäftigung mit Rassismus kontraproduktiv für eine wissenschaftliche philosophische Karriere – „Basically, one can choose to do race or choose to do philosophy“. Diesen Mechanismus kennen auch Feministinnen nur allzu gut: Wie viele akademisch orientierte Freundinnen von mir haben sorgfältig darauf geachtet, nur ja nicht zu viele „Frauenthemen“ zu bearbeiten!
Dass die Beschäftigung mit sozialen Differenzen unter Menschen von der normsetzenden, sich als universal imaginierenden Position als partikular und daher nicht von allgemeinem (also ihrem) Interesse verstanden wird, ist in sich bereits ein Beweis dafür, dass diese Position eben in Wirklichkeit gerade nicht universal ist, sondern ihren eigenen partikularen Standort – das Weißsein, das Mannsein, der bürgerliche Background – schlicht und einfach für „normal“ hält. Denn anders ließe es sich nicht erklären, dass Personen und Themen, die etwas anderes ins Zentrum stellen als die Befindlichkeit des bürgerlichen weißen Mannes als Abweichungen und Besonderheiten wahrgenommen werden. Für eine Frau ist es aber nichts Besonderes, eine Frau zu sein, und für einen Schwarzen ist das Schwarzsein normal.
Diese Verengung hat nun, wie Mills zeigt, auch dazu geführt, dass die in diesem Kosmos produzierten Theorien, Ideen und Narrative falsch sind, ebenso wie die Herangehensweisen. Mills kritisiert zum Beispiel die ständige Beschäftigung mit Idealen: Was ist das ideale Rechtssystem? Was ist die ideale Gesellschaft? Was ist die ideale Wirtschaft? (Dahinter steckt eben die oben skizzierte Vorstellung, dass alles, was in der Gegenwart schief läuft, daran liegt, dass sie von diesem Ideal abweicht, es noch nicht erreicht hat): „In a perfectly just society, race would not exist, so we do not (as white philosophers working in ideal theory) have to concern ourselves with matters of racial justice in our own society, where it does exist – just as the white citizenry increasingly insist that the surest way of bringing about a raceless society is to ignore race and that those (largely people of color) who still claim to see race are themselves the real racists.”
Mills schlägt hingegen den Zugang einer „non-ideal theory“ vor, die sich auf die Analyse – und Behebung! – konkreter nicht-idealer Zustände bezieht. Man kann das am Beispiel von Maßnahmen wie Affirmative Action oder auch Gender Mainstreaming deutlich machen: Aus der Perspektive einer „idealen“ Welt sind solche Maßnahmen problematisch, weil sie möglicherweise in einem konkreten Fall für ein Individuum ungerecht sein können (und so argumentieren ihre Gegner ja immer, wenn etwa ein weißer Mann mal einen Posten nicht bekommt). Aus der Perspektive einer Theorie des „Nicht-Idealen“ hingegen geht es eben darum, mit dem Fakt, dass die Welt eben nicht ideal ist, realistisch umzugehen und Möglichkeiten und Wege zu finden, die Situation konkret zu verbessern.
Dabei ist Mills aber auch kein Relativist, der sich von allgemein gültigen Werten gänzlich verabschieden will, ganz im Gegenteil: Die Weigerung, die Konstruktionsfehler der westlichen Moderne – dass sie eben auf dem systematischen Ausschluss bestimmter Menschen aufgebaut ist – ist es seiner Ansicht nach gerade das, was den Zugang zu wirklichem Liberalismus blockiert.
„It is immediately made unmysterious why liberal norms and ideals that seem attractive in the abstract – freedom, equality, rights, justice – have proved unsatisfactory, refractory, in practice and failed to serve the interests of people of color. But the appropriate reaction is not … to reject these liberal ideals but rather to reject the mystified individualist social ontology that blocks an understanding of the political forces determining the ideals’ restricted and exclusionary application.”
Wer die liberalen Ideen von Freiheit und Gerechtigkeit retten will, kann nicht einfach hingehen und die eigenen Vorstellung davon, was Freiheit und Gerechtigkeit ist zur allgemeinen Norm erheben. Diese Werte sind nur zu retten, wenn wir auch die Konstruktionsfehler, die diesen Konzepten von Beginn an innewohnen, thematisieren und Wege suchen, sie zu beheben. Und das geht nur im Bewusstsein für die Differenzen unter Menschen und einer politischen Praxis, die sich nicht am Erreichen eines Ideals orientiert, sondern am verantwortlichen Umgang mit dem Nicht-Idealen hier und jetzt.

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