Verschenkte Gelegenheit: Gescheiterter Versuch, Lucy Parsons zu verstehen

Lucy Parsons war eine wichtige Aktivistin des US-Amerikanischen Anarchismus über sieben (!) Jahrzehnte hinweg, und ich bin froh, dass Edition Nautilus dieses Buch herausgebracht hat. Denn es ist wirklich überfällig, dass Parsons auch in Deutschland etwas bekannter wird. Aber leider, leider ist das Buch wirklich schlecht. Die Autorin findet überhaupt keinen Zugang zu ihrer Protagonistin und nimmt sie nicht ernst. Schon auf den ersten Seiten der Einleitung urteilt sie, dass Parsons sich „täuschte“, wenn sie der Meinung war, die Öffentlichkeit habe kein Auskunftsrecht über ihr Privatleben, dass sie Dinge „nicht verstand“, wichtige Fakten „ignorierte“, dass sie zu „Einschüchterung und Drohung“ praktizierte, nennt sie „schrill“, weist ihr (vermeintliche) Widersprüchlichkeiten nach, rügt sie dafür, ihre Mutter verlassen und ihre Kinder instrumentalisiert zu haben. Das alles schon auf den ersten drei (!) Seiten. Ich bin nicht der Meinung, dass man der eigenen Protagonistin nicht kritisch begegnen darf, aber ich habe noch nie eine Biografie gelesen, wo die Autorin so urteilend und wertend mit

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Spanien: Anarchismus nach der Diktatur

Als 1975 der spanische Diktator Francisco Franco starb, bedeutete das das Ende einer langen Ära, in der jegliche linke Opposition illegal gewesen war. Folterungen, politische Morde und Repression hatten vier Jahrzehnte lange nicht nur jede politische Kritik, sondern auch jeden Ausdruck persönlicher Freiheit, Feminismus, Homosexualität, Queerness jeder Art unmöglich gemacht. Ein Dokumentarfilm von Luis E. Herrero zeigt jetzt die Aufbruchstimmung jener ersten Jahre. Im Mittelpunkt steht dabei die anarchistische Gewerkschaft CNT (Confederacion Nacional del Trabajo), die für eine kurze Zeit lang „in Mode“ kam und Hunderttausende hinter sich versammelte. Zu sehen sind Originalaufnahmen ihrer Kongresse und Treffen und Interviews mit damaligen Aktivist*innen. Dabei wird spürbar, wie schwierig es war, zwei verschiedene Gruppierungen miteinander ins Gespräch zu bringen: Die alten Kämpferinnen, die noch den spanischen Bürgerkrieg erlebt hatten, und eine neue Generation junger Menschen, die von den Ideen und Ausdrucksformen der Flower-Power und Studentinnenbewegungen der „68er“ inspiriert waren. Ich fand allerdings beim Anschauen des Films, dass gerade diese Kombination einen gewissen

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Ein Film über den Anarchismus im Schweizer Jura

Offenbar gibt es einen neuen Film über die anarchistischen Gruppen im Schweizer Jura im 19. Jahrhundert. In meiner Diss geht es viel um diese anarchistischen Uhrmacher, und ich bin damals sogar nach St. Imier gefahren, um das zu erforschen. Daher interessiert mich dieser Film natürlich sehr, und ich hoffe, dass ich ihn irgendwo sehen kann, auch wenn ich nicht in Berlin wohne. Natürlich interessiert mich auch die Darstellung des Geschlechterverhältnisses. Soweit ich es aus den verfügbaren Quellen belegen kann, waren die Sektionen dort von Männern dominiert. Mir ist keine einzige Frau namentlich bekannt, und ich habe in den Quellen gesucht (und kann es im Vergleich mit anderen Regionen Europas, wo es Sektionen der Internationale gab und es anders war, vergleichen). Es ist natürlich schön, dass der Film die Frauen in dieser „Szene“, die es ja mit Sicherheit gab, sichtbar machen will, aber die Grenze dazu, sich die eigene anarchistisch-patriarchalische Vergangenheit schönzureden, ist natürlich ein schmaler Grat. Und noch eine Frage

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Erbrecht abschaffen!

Angeblich leben wir ja in einer Gesellschaft, in der alle die gleichen Chancen haben, in der es gerecht zugeht, in der das Individuum zählt und nicht der Clan, zu dem jemand gehört – schön und gut, aber was dem vollkommen entgegensteht, ist das Erbrecht. Seit ich im Rahmen meiner Dissertation vor 30 Jahren realisierte, dass im 19. Jahrhundert die Abschaffung des Erbrechts eine zentrale Forderung anarchistischer Gruppen war und vor allem auch Feministinnen das unterstützten (weil das damalige Erbrecht meist auch noch patriarchal war und männliche Nachkommen bevorzugte), geht mir das nicht mehr aus dem Kopf. Also warum es sich so gehalten hat. Und warum die Linken sich so auf das Privateigentum an Produktionsmitteln kaprizieren, statt so etwas viel einfacheres, logischeres, praktischeres wie die Abschaffung des Erbrechts anzustreben. Und warum dieses Clan-Familien-Denken sich so hartnäckig hält. Ich schreib das immer mal hier und da hin, meistens mit wenig Resonanz, weil die Linken sind alle marxistisch eingenordet (Marx war schon im

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Frage an meine anarchistischen Kontakte:

Ich denke gerade darüber nach, wie in einer herrschaftsfreien Gesellschaft notwendige Verhaltensänderungen – wie etwa bei einer Virus-Epidemie – in kurzer Zeit umgesetzt werden können. Die Problemlage ist ja folgende: Um eine Epidemie zu bekämpfen, ist es notwendig, sehr schnell zu handeln, denn jeder Tag Verzögerung vergrößert das Problem exponenziell. Herrschaftsfreie Entscheidungsprozesse brauchen jedoch – anders als machtpolitische oder gewaltförmige – Zeit, und manchmal kommen gar keine zustande, weil es keine Einigung gibt. Nun ist es aber bei einer Epidemie so, dass das schädliche Verhalten einer einzigen Person hunderte oder tausende andere gefährden kann. Die „normale“ anarchistische Option, nämlich sich im Fall von unterschiedlichen Auffassungen einfach zu trennen oder zwei verschiedene Projekte zu machen, die sich gegenseitig in Ruhe lassen, oder eben geduldig weiter zu diskutieren, bis man sich geeinigt hat – das alles geht nicht. Allerdings sehen wir zurzeit, dass die herrschaftsförmige Art, das zu organisieren – Regierungsentscheidungen von oben und Polizei, die das umsetzt – auch nur kurzfristig

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„Das Hauptproblem besteht natürlich darin, dass erfolgreiche Revolutionen so selten sind“

Gelesen: Den kürzlich erst veröffentlichten Text „Die Freiheit, frei zu sein“ von Hannah Arendt, der wohl um 1966 oder 1967 entstand. Sie schreibt darin über Revolutionen und die Frage, was und wer sie warum macht. Dabei wählt sie auffällig oft – eigentlich dauernd – die Formulierung: „Die Männer der Revolution“. Die Französische Revolution, schreibt Arendt, scheiterte, weil die „Männer der Revolution“ mit der Idee von der Gleichheit aller Menschen sehr viel mehr eingeläutet hatten als nur, wie sie dachten, einen Wandel der Regierungsform. Die Frauen mit ihrem Marsch auf Versaille (le peuple) hätten vielmehr sichtbar gemacht, dass Freiheit nur möglich ist, wenn Menschen auch die Freiheit haben, frei zu sein. Oders anders: Es reicht nicht, keine Furcht (vor denen da oben) zu haben, man braucht auch was zum Essen. Damit hoben die Frauen, le peuple, die Idee der Revolution auf ein neues Level: auf das der sozialen Verhältnisse. Die Französische Revolution ist an der Größe dieser Aufgabe gescheitert, aber die

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Zur Arte-Dokumentation über Anarchismus

Gestern Teil 1 dieser Arte-Doku über Anarchismus gesehen (nur noch 2 Tage in der Mediathek!) Meine Kurz-Rezension: Alles in allem ganz okay, außer *dass es wieder komplett aus einer männlichen Perspektive erzählt wird – anders ließe sich ja nicht behaupten, Proudhon hätte jegliche Form von Herrschaft abschaffen wollen, die von Männern über Frauen wollte er nämlich ganz dezidiert bekräftigen). Frauen kommen nur am Rande vor, analytisch spielt das Thema keinerlei Rolle. Verschenkt. Unter den haufenweise Experten, die uns den Anarchismus erklären, ist auch nur eine einzige Frau, immerhin die großartige Marianne Enckell. *dass richtige Fehler drin sind – zum Beispiel wird wieder mal das nicht aus der Welt zu schaffende Gerücht behauptet, Frauen hätten in der Pariser Kommune wählen dürfen. *und dass ich das Label „Anarchismus“ generell für die Zeit vor dem 1. Weltkrieg schwierig finde, weil es alles umfasst, was nicht marxistisch ist. Dadurch verschwinden wichtige Differenzierungen. Bakunin wird zum Beispiel als Nachfolger von Proudhon in der Internationale bezeichnet, das

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