
Vor 700 Jahren, am Pfingstmontag des Jahres 1310, wurde in Paris eine etwa fünfzig Jahre alte Frau auf dem Scheiterhaufen verbrannt: Margarete Porete hatte ihr Buch „Der Spiegel der einfachen Seelen“ nicht widerrufen, obwohl eine kirchliche Kommission nach langer Prüfung festgelegt hatte, dass einige seiner Thesen gotteslästerlich seien. Die Ermordung der Autorin konnte aber nicht verhindern, dass der „Spiegel“ von vielen Menschen gelesen wurde und die christliche Mystik (und darüber auch weite Teile vor allem der weiblichen Philosophie bis heute) stark beeinflusst hat.
In dem Buch geht es um die Suche nach Gott. Das klingt in den Ohren vieler Leute heute wahrscheinlich antiquiert. Aber im Mittelalter war Gott noch nicht Gegenstand wissenschaftlicher Dispute, bei denen sich Gelehrte darüber stritten, ob er existiert oder nicht und wie man das eine oder das andere beweisen könnte. „Gott“ war eher ein Wort, das für einen bestimmten Aspekt der Realität stand. Praktisch alle waren sich darüber einig, dass es sinnvoll ist, dieses Wort zu benutzen, und dass es erstrebenswert ist, Gottes Willen zu tun. Man war sich nur nicht einig darüber, woher man wissen soll, was Gott will. Heute könnten wir vielleicht sagen, es ging dabei um die Frage, was „richtig“ ist und woher man das wissen kann.
Für Margarete Porete ist es keine Lösung, sich einfach nach den Autoritäten zu richten: Es steht so im Gesetz, es ist nicht verboten, mein Chef will das so (damals: die Sitten sind so, der Fürst will es, die Kirche sagt es). Sie geht davon aus, dass Menschen eine Beziehung zu Gott haben können, das heißt also wissen, was „richtig“ ist, ohne auf die Vermittlung kirchlicher Autoritäten angewiesen zu sein. So gesehen könnte sie auch als eine frühe Vorläuferin der Reformation gelten.
Porete geht aber noch einen Schritt weiter als später Martin Luther, denn sie stellt auch zwei andere Wegweiser hin zum „Guten“ und „Richtigen“ in Frage, auf die ja auch heute noch gerne verwiesen wird: die Vernunft und die Tugend. Der Verstand, schreibt Porete, sieht immer nur „das Grobe“. Und die „Tugend“ sei zwar lobenswert – habe aber nichts mit Gott zu tun. Ihr persönlicher Weg führte sie vielmehr hin zu der Erkenntnis, dass es keine andere Möglichkeit gibt, als Gott zu lieben.
Ich finde das einen genialen Dreh und auch heute noch eine hilfreiche Denkfigur. Das „Richtige“ zu finden ist keine Angelegenheit von äußerlichen Fähigkeiten, von genialer Wissenschaft und moralischer Tugend, sondern eine Frage der „Liebe“, also der inneren Haltung, die eine Person hat, und zwar genau hier und jetzt, in einer konkreten Situation: Wenn ich vor eine Entscheidung gestellt bin, dann kann ich das „Richtige“ tun, wenn ich liebe – und zwar nicht irgend etwas liebe (nicht einmal das „Richtige“ – das ist der Punkt, wo die Analogie nicht mehr stimmt) sondern eben „Gott“, also das, was gerade kein Objekt ist. Liebe „einfach nur so“ würden wir heute vielleicht sagen. Eine Liebe, die „im Nichts befestigt“ ist, wie Porete schrieb.
Es geht ihr nicht darum, ein philosophisches Denkgebäude zu zimmern, sondern sie beschreibt einen praktischen, experimentellen Weg (darin ist sie der Literatur der Frauenbewegung aus den 1970er-Jahren ähnlich). Deshalb ist das Buch auch nicht als Traktat geschrieben, sondern in Dialogform: Die Liebe, die Vernunft und die Tugenden diskutieren miteinander; auch die Seele, der Heilige Geist, die Kirche und die Wahrheit mischen sich ein. Dazu gibt es Selbstreflektionen und Schilderungen des eigenen Erkenntnisweges. Kein belehrendes Kompendium eben, sondern ein Dokument, das die Leserinnen und Leser an den Gedankenprozessen der Autorin teilnehmen lässt.
Es ist offensichtlich, dass so eine Philosophie bei Autoritäten nicht gut ankommt. Wenn „Gott“ (also das, was „richtig“ ist) nur über die Liebe gefunden werden kann – dann gibt es nämlich keine objektive „Ordnung“ mehr, die aufrechterhalten werden muss. Sondern alles hängt an den Fähigkeiten der Beteiligten, der einzelnen Menschen, in einer bestimmten, konkreten Situation das Richtige zu tun. Man kann daraus keine Gesetze machen, keine Regeln, keine abstrakten Konzepte. Jede Situation ist anders. Was man braucht, das sind selbstbewusste, gebildete, offenherzige, mutige Menschen. Menschen, die lieben können „einfach nur so“, also ohne ihre Liebe auf ein bestimmtes Objekt zu richten. Ich finde, das ist immer noch eine sehr anspruchsvolle Lebenshaltung.
Margarete Porete war mit ihren Ideen dabei keineswegs alleine. Als Begine gehörte sie zu einer religiösen Bewegung und Lebensgemeinschaft von Frauen, die im späten Mittelalter sehr bedeutend war. Später wurden die Beginenhäuser entweder verboten oder in die offizielle Kirche eingereiht.
Der „Spiegel der einfachen Seelen“ war durch die Jahrhunderte hinweg eine Art internationaler Bestseller, Übersetzungen in Latein, Englisch und Italienisch entstanden bereits im 14. Jahrhundert. Nach der Hinrichtung seiner Autorin wurde das Buch anonym verbreitet und man vergaß, wer es geschrieben hatte. Im Lauf der Zeit wurde es verschiedenen religiösen Autoritäten zugeschrieben, bis eine Historikerin 1946 Margarete Porete zweifelsfrei als die Autorin identifizierte.
Erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird das Buch auch mit katholischer Druckerlaubnis verlegt. Eine broschierte Neuauflage ist soeben im Topos-Verlag erschienen.
Einen ausführlicheren Text zu Margarete Porete hat Irmgard Kampmann geschrieben

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