Almut Schnerring hat mir ihr Buch zugeschickt: „Die Rosa-Hellblau-Falle. Für eine Kindheit ohne Rollenklischees.“ Sie hat es zusammen mit ihrem Mann, Sascha Verlan, geschrieben, und Auslöser waren wohl die Erfahrungen, die sie mit ihren drei Kindern gemacht haben. Die Falle kennen wohl alle Eltern, und das Thema ist natürlich nicht neu, aber hier ist das alles einmal gut verständlich zusammengestellt, inklusive vieler Fallbeispiele, Interviews, neuesten Studien zum Thema.
Ein empfehlenswertes Buch, das sich zum Beispiel gut an Eltern von kleinen Kindern verschenken lässt, die im Feminismusdiskurs vielleicht nicht so aktiv drin sind.
Und wie immer stellt sich beim Lesen die Frage, warum nur, warum ist diese Rosa-Hellblau-Falle nach der Emanzipation der Frauen nicht kleiner geworden, sondern größer? Und mir kam eine Idee, woran es – neben all dem, was wir dazu schon wissen – auch noch liegen könnte:
Nämlich daran, dass wir, also die Erwachsenen, die Gesellschaft insgesamt, keine überzeugenden Antworten darauf haben, wenn Kinder wissen wollen: Was bedeutet es, dass ich ein Mädchen bin? Was bedeutet es, dass ich ein Junge bin?
Im Prinzip drücken wir uns doch vor einer Antwort auf diese Frage. Die alten Antworten, die bis in die Fünfziger, Sechzigerjahre gegeben wurden, sind heute obsolet: Mädchen müssen kochen und hübsch sein, Jungen kämpfen und Geld verdienen. Zumindest explizit sind sie obsolet. Niemand sagt das heute noch so, außer vielleicht ein paar Ewiggestrige.
Eigentlich, so sagen wir unseren Kindern, hat das keine Bedeutung mehr. Irgendwie sind wir doch alle ein bisschen postgender. Dabei reicht die Spanne von denen, die aktiv versuchen, Rollenklischees zu konterkarieren und ihre Kinder zu erziehen, ohne die Kategorie Geschlecht zu verwenden, bis hin zu denen, die sich über das Thema keine Gedanken machen und es einfach so machen, wie es alle machen, manchmal mit ein bisschen schlechtem Gewissen dabei.
Die ehemals expliziten Rollenanweisungen für Jungen und Mädchen wurden auf diese Weise quasi durch nur noch statistische Trends ersetzt, die sich im Einzelfall schwer nachweisen lassen, zum Beispiel, dass Eltern im Schnitt nachsichtiger sind, wenn Jungen sich nicht an der Hausarbeit beteiligen, als wenn das Mädchen tun. Diese statistischen Unterschiede in der Erziehung zum Geschlechterkonformismus sind aber nicht mehr kulturell untermauert, sie geschehen nicht absichtlich, sondern unabsichtlich. Sie werden nicht mehr aktiv und absichtlich ausgehandelt, sondern irgendwie so durchgeschleppt.
Aber Kinder sind ja nicht blöd. Sie sehen ganz genau, was für eine enorme Bedeutung die Geschlechterdifferenz hat, für praktisch jeden Aspekt des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Sie sehen, dass Erwachsene sehr bewusst ihr Geschlecht „performen“. Und gleichzeitig sind Kinder konformistisch. Sie wollen vor allem dazugehören, sie wollen Orientierung.
Wenn sie nun von Eltern, Lehrerinnen oder Schulbuchautoren keine Antwort auf ihre Frage, was es bedeutet, ein Junge oder ein Mädchen zu sein, bekommen – dann glauben sie halt der Werbung. Dann wollen sie das, was die Werbung an Identitätsstiftung anbietet, rosa Überraschungseier oder Bagger oder sonstwas. Die Werbung kann umso klischeehafter vorgehen, je weniger alternative Antworten mit ihr konkurrieren. Sie sagt dann, es sei ja alles nur ironisch gemeint, oder eben, es sei ja offensichtlich überzeichnet und nur ein Spaß.
Man kann Kindern nichts beibringen, das von der gesellschaftlichen Realität nicht gedeckt ist. Die Veränderung der Geschlechtsrollen muss bei den Erwachsenen anfangen. Und solange wir Erwachsenen eine zweigeschlechtliche Welt vorleben, müssen wir auch für Kinder die Frage, was Geschlecht denn nun bedeutet, beantworten. Denn es bedeutet eben faktisch was.
Wir müssen also antworten, aber nicht im Sinne soziologischer Analysen, sondern im Sinne von dem, was wir selbst für die richtige Antwort halten, in erster Person. Es gibt auf diese Frage keine objektiv richtige Antwort, sondern es verlangt ein Urteil von der oder demjenigen Erwachsenen, der gerade gefragt ist: Was bedeutet es, dass ich eine Frau bin? Was sehe ich in Männern und im Mannsein?
Geschlecht ist eine soziale Konstruktion, und zwar eine sehr wirkmächtige. Es reicht nicht, diese Konstruktion als solche zu entlarven, denn dann bleibt Nichts übrig, ein Vakuum, das mit Prinzessinnen, Rittern, Puppenküchenbetreiberinnen und Baggerfahrern befüllt wird. Veränderung wird es nur geben, wenn wir denjenigen Konstruktionen, die wir für falsch halten, andere entgegensetzen, die wir besser finden. Die mehr Freiheit erlauben, uns selbst und dann auch den Kindern.
Die Konstruktion von Geschlecht ist eine Kulturproduktion. Wenn sie nicht stattfindet, und das ist leider derzeit über weite Strecken der Fall, dann geht diese Kategorie nicht einfach weg, ganz im Gegenteil.
Almut Schnerring, Sascha Verlan: Die Rosa-Hellblau-Falle. Für eine Kindheit ohne Rollenklischees. Kunstmann, München 2014, 16,95 Euro.
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Update, 24. April, 10.19 Uhr
Nachdem es einige interessante Debatten auch auf Facebook und per Mail zu diesem Blogpost gegeben hat, möchte ich noch etwas ergänzen:
Manche haben es so verstanden, als würde ich sagen, dass heute Geschlecht keine offensichtliche Bedeutung mehr hat und Rollenanweisungen nur noch subtil zu Tage treten. Das meine ich nicht, meine These ist vielmehr, dass die Rollenanweisungen, die heute gegeben werden, im Vergleich zu denen früherer Zeiten substanzlos sind. Sie haben heute vor allem symbolischen Wert, weniger realen, sie werden eher unbewusst und gedankenlos reproduziert denn aktiv und ernsthaft und inhaltlich erarbeitet und debattiert.
Wenn ich mich zum Beispiel daran erinnere, wie mir die Bedeutung des Mädchen-/Frauseins als Kind vermittelt wurde, dann ging es nicht nur um symbolische Sachen wie rosa und Glitzer. Es ging um harte Sachen wie: Ich muss ordentlich sein, sonst finde ich nie einen Mann, zum Beispiel. Dies war von meiner Mutter ernst gemeint, nicht ironisch oder spielerisch oder symbolisch. Eine solche ernstgemeinte Bedeutungzuschreibung konnte ich allerdings auch aktiv verändern, indem ich zum Beispiel später meiner Mutter sagte: Es ist mir aber auch ganz egal, ob ich einen Mann finde. Oder als meine Tante mir vor meiner ersten (sehr frühen, haha) Heirat sagte: Ach, du heiratest, und ich dachte, du machst mal Karriere! Auch damit vermittelte sie mir eine bestimmte, substanzielle Bedeutung des Frauseins, die ich mit „Aber ich kann doch heiraten und trotzdem Karriere machen“ diskursiv und praktisch widerlegen und bestreiten konnte.
Ich wollte also mit meinem Blogpost sagen (wobei mir das erst jetzt nach den Debatten allmählich klar wird), dass diese Substanz, die ein debattierbarer zugänglicher Inhalt ist, aus den Geschlechtsrollenzuweisungen praktisch verschwunden ist und nur symbolische Albernheiten übrig geblieben sind, denen man diskursiv hilflos ausgeliefert ist, denn sobald man was sagt kommt ein „Ist doch nicht so gemeint“ oder „Ist doch nur Spaß“ oder „Nimm das doch nicht alles so ernst“.
Noch etwas fiel mir auf: Wahrscheinlich bin ich in meinem Blogpost über eine Generation verrutscht. Denn zurecht wurde ich darauf hingewiesen, dass es ja nicht die Kinder sind, die auf die Rosa-Hellblau-Identifikationsangebote der Werbung anspringen, sondern auch viele junge Eltern. Wahrscheinlich ist das eine Folge davon, dass sie selbst als sie klein waren auch schon keine vernünftige Antwort auf ihre Fragen nach der Bedeutung von Frausein und Mannsein bekommen haben.
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Noch ein Update, 11.40 Uhr
Auf Facebook kam gerade der Hinweis, dass viele Eltern ihre normierenden Erziehungsinterventionen heute damit begründen, dass die Unterschiede zwischen den Geschlechtern ja wissenschaftlich bewiesen wären. Mir kam dabei die Idee, dass der Hinweis auf die angebliche „Wissenschaftliche Belegbarkeit“ der Stereotype ebenfalls ein Anzeichen von Diskursverweigerung sein könnte. Früher hieß es eben in der Erziehung: Mädchen SOLLEN so sein, Jungs SOLLEN so sein, d.h. es war eine bewusste Konstruktion, es war klar und wurde nicht versteckt, dass es um Konditionierung ging. Heute versteckt man sich hinter angeblicher Wissenschaftlichkeit, weil man selbst die Verantwortung für das, was man tut, ablehnt (Ich HÄTTE ja nichts dagegen, wenn mein Sohn mit Puppen spielt, aber er WILL ja nicht).

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